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Wunderbar
und nie gehört


Dieses Gefühl kennt jeder: In Erwartung eines bestimmten Geschmacks setzen sie das Glas an die Lippen, nehmen einen kräftigen Schluck - und erschrecken sich, denn tatsächlich handelt es sich um etwas ganz Anderes.

So geht es auch mit Wanderlust". Der unvoreingenommene Rezensent liest den Namen der Künstlerin - Kiran Ahluwalia -, sieht sie auf dem Cover in einem traditionell anmutenden Gewand neben einem Instrument, dessen Form an eine Sitar erinnert (tatsächlich ist es eine Tampura), und schon ist die Erwartung eindeutig gen Indien gerichtet.

Dann allerdings hat man den Albumtitel "Wanderlust" nicht gebührend ernst genommen, denn der ursprünglich aus dem Deutschen entlehnte englische Begriff ist durchaus wörtlich gemeint: Kiran Ahluwalia verharrt nicht in der eigenen Tradition, sondern begeistert sich ebenso für Musik, in der sie geistige Verwandtschaften entdeckt.

Man merkt es also nicht sofort: Die Gesangsharmonien orientieren sich am "Ghasel", einer alten lyrischen Liedform, deren Ursprung im 8. Jahrhundert zwischen Persien und Indien angenommen wird. Dazu passt das Foto mit der Sitar, doch nach kurzer Zeit wird man stutzig, denn das Instrument, das den wunderschön harmonischen Gesang von Kiran Ahluwalia begleitet, ist ganz offenkundig eine portugiesische Gitarre, und überhaupt verbreitet das ganze Eröffnungslied das sehnsuchtsvolle Aroma des Fado, die "Saudade", die, so lernen wir später, mit dem Grundgefühl des Ghasel so viele Gemeinsamkeiten hat: "Die Mehrzahl", sagt Kiran Ahluwalia, doch ebenso gut könnte das Zitat von Amália Rodrigues oder einer anderen Fado-Legende stammen, "handelt von romantischer Leidenschaft, und ein wiederkehrendes Thema ist das vom Liebenden und der Geliebten. Der Liebende sehnt sich unablässig nach der Geliebten, die aber ist für immer unerreichbar".

Wunderbar und nie gehört, wie Kiran Ahluwalia diese beiden Liedformen und darüber hinaus altes Liedgut des Punjab, der Heimat ihrer Familie, vereint. Einige Lieder ihres Albums spielte sie direkt in Portugal ein, die Mehrzahl entstand in den USA, wo sie inzwischen lebt. Und so mischen sich die meditativen Beats der Tablas mit dem lyrischen Spiel der portugiesischen Gitarre und dem Akkordeon fast unmerklich zu etwas Neuem, Aufregendem, das den eigenen Geschmackssinn zunächst überrascht und verwirrt, dann überwältigt und mitreißt, und schließlich nicht mehr los lässt.


© Michael Frost, 22.06.2008

 


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