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Im dunklen Zeitalter

 

Die einen verbrennen Bücher. Die anderen entfachen Feuer mit dem, was sie in ihren Büchern schreiben. Die einen zeichnen Karikaturen, die anderen wollen sie mitsamt dem Zeichner verbrennen, wieder andere verleihen dem Zeichner einen Preis. Es ist der 11. September 2010 - neun Jahre nach "Nine Eleven" - und vielfach entdeckt man klammheimliche bis offenherzige Begeisterung über die Brandstifter auf allen Seiten. Wo die Grenzen zwischen Politik und Volksverhetzung fallen, erscheint die Kunst als einzig möglicher Ausweg, als Feuerwehr, als letzte Hoffnung auf die Rückkehr der Vernunft.

Künstler, gerade solche, die auf "beiden" Seiten leben, leiden. Umso höher wird ihr Anspruch. Natascha Atlas möchte "ein Gefühl der Umkehr - eine Wende in der Gesellschaft, in unseren politischen Systemen und Glaubenssystemen" vermitteln. Also bat sie ein zwanzigköpfiges türkisches Ensemble und ein klassisches Kammerorchester ins Londoner Aufnahmestudio, um die Klassik des Westens mit der Poesie Arabiens zu verbinden.

Ägyptisch anmutende Geigen schweben über jazzigen Klavier-Improvisationen, hypnotisierende Percussions bilden einen rhythmischen Kontrast zu der betörenden, traurigen und lyrischen Stimme der Sängerin und der Poesie des Arabischen.

Wer die Arbeit von Natascha Atlas seit ihren ersten Alben verfolgt, kommt nicht umhin, von ihrem Reifeprozess mehr als beeindruckt zu sein. Im Umfeld von Peter Gabriel wurde die in Belgien aufgewachsene Tochter einer aus Ägypten stammenden Familie im Westen berühmt, sie tourte mit Led Zeppelin und landete mit der arabischen Coverversion von Françoise Hardys "Mon amie la rose" einen internationalen Hit.

Auf "Moungaliba" hat sie erneut einen Hardy-Titel aufgenommen: "La nuit est sur la ville" - eine verträumte Nocturne, die sich in das Repertoire des Albums, das neben Nick Drakes "River man" und der Adaption eines 400 Jahre alten arabischen Gedichts ausschließlich aus eigenen Kompositionen besteht, wunderbar einfügt. Unterbrochen werden die Lieder von instrumentalen Interludes, die einen hochinteressanten Effekt erzeugen, bilden sie doch ihrerseits eine Brücke zwischen den einzelnen Liedern.

Es wäre allerdings mehr als eine Interviewfrage wert, sich nach der Bedeutung der Zitatfetzen zu erkundigen, die Natacha Atlas in die Zwischenstücke einstreut. Sie stammen nämlich von Peter Joseph, Dokumentarfilmer und Begründer der "Zeitgeist"-Bewegung. In seinen Filmen versucht Joseph die machtpolitische Bedeutung von Kapital, Militär und Religion zu entlarven, teils allerdings mit fragwürdiger Beweisführung - gerade im Hinblick auf die Anschläge vom 9. September 2001, bei denen er eine Mittäterschaft der US-Regierung nachzuweisen versucht. Natascha Atlas allerdings bezieht sich allein auf die Konsequenz seiner Arbeit: Umkehr - "Moungabliba".

"Wir sind an einem Wendepunkt", sagt sie, "wie widersinnig alles ist, und wie weit wir davon entfernt sind, zivilisiert zu sein. Es scheint so, als wären wir im dunklen Zeitalter - auf eine perverse, moderne Art."

Doch so dunkel, wie Natacha Atlas es empfinden mag, ist das Zeitalter nicht. Jedenfalls nicht, so lange sie die Musikwelt weiter mit so strahlend hellen Alben erleuchtet.

 

© Michael Frost, 11.09.2010


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