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Lossagung von der
Gegenständlichkeit


Es gibt ganz unterschiedliche Arten von Soundtracks. Solche, die eher zurückhaltend den Film "unterlegen", dann solche, die geradewegs in den Mittelpunkt der Handlung drängen, schließlich solche, die gar nicht für Filme geschrieben wurden, aber trotzdem Geschichten erzählen, und zwar solche, die vor allem im Kopf ihres Zuhörers entstehen. Für die letzte Kategorie stehen Björks isländische Landsmänner Sigur Rós. Björk selbst dagegen wählt seit ihrem Album "Vespertine" (2001) das abstrakte Klangbild: ihre Musik ist kein Abbild des Sichtbaren, sondern eine Ahnung vom Unsichtbaren.

Auch wenn "Vespertine" aus heutiger Sicht und im direkten Vergleich mit ihrem nachfolgenden Album "Médulla" geradezu bildhaft und naturalistisch wirkt, so hat sie sich doch seither konsequent von jeder Gegenständlichkeit losgesagt. Schon für die Aufnahmen zu "Médulla" suchte Björk Ausdrucksformen jenseits menschlicher Kommunikation und traditioneller Harmonielehre und fand sie in der röchelnden Oberstonstimme der Inuit-Sängerin Tanya Tagaq und dem Multi-Vokalisten Dokaka aus Japan. Mit Popmusik hat all dies schon lange nichts mehr zu tun.

"Björk macht Kunst" staunen denn auch Kritiker, und tatsächlich lässt sich eine kontinuierliche Wandlung der Musikerin erkennen. Die Fusion verschiedener Sparten der Kunst, wie sie auf dem neuen Album der Isländerin zum Ausdruck kommt, schien unvermeidlich.

"Drawing restraint" ist ein Projekt des Multimediakünstlers Matthew Barney, mit dem Björk seit einiger Zeit zusammen lebt, und die "Nr. 9" dieses Projekts ist ein Film, den Barney in Japan aufnahm. Elf Kompositionen schrieb Björk, die in dem Film selbst auch zu sehen ist, für den Soundtrack. Und hier eben liegt das Problem: Mehr noch als die "Médulla"-Tracks entziehen sich diese Aufnahmen gängigen Zuschreibungen, traditonellen Klangkonzepten - geschweige denn den beschriebenen Gesetzesmäßigkeiten von Filmmusik insgesamt.

Darin gleicht die Musik dem Film. "Drawing restraint 9" erzählt zwar eine Geschichte, die jedoch nur als Allegorie verständlich wird - wenn überhaupt -, worin sie der Abstraktion in Björks Musik zu gleichen scheint, und umgekehrt. Deshalb ist es wenig erfolgversprechend, sich diesem Soundtrack aus der Perspektive des Musikkritikers zu nähern. Vielleicht, und darin liegt das größere Problem, gilt dies jedoch auch für den Björk-Fan, der mehr denn je ratlos vor der neuen Produktion seines Idols sitzt und nicht weiß, zu welcher Gelegenheit er diese CD jemals hören könnte.

Am gefälligsten ist da noch der Einstieg mit "Gratitude", bei dem Björk mit Will Oldham als Gastsänger eine echte Überraschung vorhält. Textgrundlage seines Beitrags ist der Brief eines Japaners, der sich bei einem amerikanischen General für die Aufhebung des Walfangverbots bedankt. Der Film "Drawing Restraint no. 9" endet damit, dass Björk und Matthew Barney sich die Gliedmaßen amputieren, damit dort statt ihrer Flossen wachsen können. Schließlich ziehen sie als Wale Richtung Antarktis.

Björks Musik zu diesem bizarren Thema, und dies sollte man durchaus als Referenz an die Arbeit ihres Partners verstehen, hält sich auffallend zurück: nur auf drei Stücken ("Bath", "Storm", "cetacea") ist ihre Stimme zu hören. Das Album ist, so steht es bereits auf dem Cover, die Musik für Matthew Barneys Film.

In der Hauptsache arbeitet Björk mit ungewöhnlichen Instrumenten, die sie unter dem Gesichtspunkt größtmöglicher Reduktion arrangiert. Schwerpunktmäßig setzt sie asiatische Percussions ein und die Sho, eine japanische Flöte mit Jahrhunderte alter Tradition, die sich als Grundmuster durch die Musik zieht. Selbstredend: Kompositionen und Arrangements für dieses für Europäer so fremde Instrument schrieb Björk selbst.

Mit Valgeir Sigurdsson, Mark Bell (Keyboard, Programmierung) und Zeena Parkins (Harfe) hat Björk erneut ihre langjährigen Weggefährten um sich versammelt. Sie teilen die abstrakten, manchmal absurden Visionen ihrer Meisterin vorbehaltlos, die in der Lage ist, ein Blasorchester zu einem einzigen Schiffshorn zu formen, um es im nächsten Moment zu einer dissonanten Oper im Stil Kurt Weills zu verwandeln ("Hunter vessel").

"Storm" ist vielleicht der einzige Titel dieses Soundtracks mit eigener Bildsprache. Hier zieht und zerrt es, es weht und windet, grollt und donnert, Björk ist wieder in ihrem vertrauten - isländischen - Element. Es ist aber auch der einzige Titel, der nicht neu ist. In einer anderen Version stand er bereits 2003 auf der Setlist von Björk-Konzerten. Es bleibt der einzige Ausflug in vertraute Gefilde, mehr ein Abschiedsgruß als eine Rückkehr.

Wer sich solchermaßen von allen gängigen Konventionen lossagt, kann auch nicht mit denselben gemessen werden.
Was die Zukunft Björks angeht, kann "Drawing restraint 9" zweierlei bedeuten: Entweder, es ist ein Sideprojekt und steht gewissermaßen außerhalb der Betrachtung ihrer bisherigen Studioalben. Dagegen spricht allerdings die erkennbare Kontinuität, die sie auf ihren Weg bis zu diesem Album geführt hat. Und so könnte "Drawing restraint 9" Björks endgültigen Abschied aus der Welt der Popmusik bedeuten. Sie hat sich dieser weltlichen Gliedmaßen entledigt und verlässt mit ihrem Gefährten die Zivilisation - Richtung Antarktis. Dort wartet eine weiße, unberührte Welt.

© Michael Frost, 01. August 2005


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