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Mitten ins Mark


Fans und Feuilletons sind gleichermaßen verzweifelt. Was sollen sie von Medúlla halten, dem neuen Album von Björk, dem isländischen Gesamtkunstwerk. "Medúlla", Fachbegriff für das Mark, somit das Innerste aller Lebewesen, macht schon mal Björks Anspruch deutlich: Es geht ihr ums Ganze, um Alles oder Nichts, um Sein oder Nichtsein, um nichts geringeres als das, was den Mensch zum Menschen macht: sein Gesang.
So jedenfalls lautet Björks Definition.
Widerspruch ist denkbar, aber zwecklos.

Denn ihre künstlerische Entwicklung, wie die Schweizer Sonntagszeitung in einem Beitrag über die Ausnahmemusikerin feststellte, war bereits absehbar. Nach zahllosen Experimenten mit dröhnenden Bläsern und klingenden Gläsern, Celli und Cembali, grönländischen Chören, indischen Trommlern und dänischen Computerfreaks in spanischen Bergen, isländischer Abgeschiedenheit und der Toilette einer Milchbar kommt Björk rückblickend zu einer ebenso banalen wie radikalen Erkenntnis: "Instruments are so over" - Die Zeit der Instrumente ist vorbei.
Also hat sie ein A capella-Album aufgenommen, "eine Feier der Vox Humana und ihrer Möglichkeiten", wie die ZEIT in ihrer Rezension anerkennend vermerkt.

Der postulierte Putsch gegen die Instrumentalmusik, der nicht eben wenige Zeitgenossen überfordert, wird erst bei genauerer Betrachtung verständlich, erscheint dann sogar logisch - und wird schließlich "zum Ausweg aus der künstlerischen Sackgasse" (Sonntagszeitung). Denn was hätte auf "Vespertine", ihr phänomenales Album mit grönländischem Frauenchor, Symphonieorchester, Harfe und Matmos' Computerbeats noch folgen können: "Noch mehr Instrumente? Noch mehr Computer?"

So kann die Kehrtwende zu Recht als Befreiungsschlag interpretiert werden. Zwar hat sie mit Mark Bell, Olivier Alary, Matmos und Valgeir Sigurdsson wiederum die erste Garde digitaler Tonkunst um sich geschart, doch das Material, mit dem die Computertüftler umgehen mussten, war fast ausschließlich menschlichen Ursprungs: ein isländischer und ein britischer Chor, die Inuit-Obertonsängerin Tanya Tagaq, der Japaner Dokaka, Gregory Purnhagen, Shlomo, Rahzel, Robert Wyatt, Mike Patton - und natürlich die Meisterin selbst.

Videolink: "Triumph of a heart" (Quelle: youtube)
 

Dass Björks Vision von einem Album, das fast ausschließlich auf menschlichen Stimmen basiert, völlig anders sein würde als das, was bis dato als "A capella" bezeichnet wurde, dürfte niemanden wirklich verwundern. Ebenso wenig hätte sie sich damit zufrieden gegeben, ihren Gesang à la Cher durch einen einfachen Vocoder verfremden zu lassen. Umso stärker ist der Tobak, den sie ihren Fans serviert, und entsprechend ambivalent bis ratlos sind auch deren Reaktionen auf die seltsamen Töne, Laute und Stimmen, die nicht selten das Ziel zu verfolgen scheinen, den Begriff der atonalen Musik neu zu definieren. Was auf Medúlla dem Innersten der Vokalisten entströmt, trifft so manchen Zuhörer direkt ins Mark, mal schmeichelnd und flüsternd, mal eruptiv, mit voller Wucht und unzähmbarer Gewalt.

Man müsse die CD nur oft genug hören, machen sich einige Ratlose in der Björk-Comunity gegenseitig Mut, dann werde sie einem schon gefallen. Damit beschwören die Fans einen Gewöhnungseffekt, der sich schon bald bitter rächen dürfte: nichts ist ihrem Idol nach eigenem Bekunden so verhasst wie die Routine, Ende aller Kreativität.

So wird schon das nächste Album mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wieder völlig anders klingen, und das radikal reduzierte Konzept von "Medúlla" eröffnet Björk dafür nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Die fast mystische Beschwörung menschlicher Ur-Laute führt sie zurück zum Ausgangspunkt der Musik. Von diesem Punkt ausgehend stehen Björk alle Richtungen offen.

Der ZEIT-Rezensent jedenfalls hat bereits einen Wunsch geäußert: "Fürs nächste Mal erwarten wir uns ein Album, das ganz aus dem gesampelten Brunftschrei der Eintagsfliege gewirkt ist, oder dem Knistern unrasierter Achselhöhlen um Mitternacht."

© Michael Frost, 20. August 2004


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