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Schlepperballett
und Tanztheater


Es war fast schon komisch, wie sich mehr oder weniger berufene Experten in den vergangenen Wochen mit Beurteilungen über Björks neues Werk "Volta" ausließen. Jetzt, wo die Scheibe veröffentlicht ist, weiß man nämlich, dass die wenigsten der selbst ernannten Kritiker die CD überhaupt in Gänze gehört haben konnten.

Björk kehre zu ihren Wurzeln zurück, war zu lesen (verwiesen wurde auf ihr zweites Solo-Album "Post"), "Volta" sei nicht mehr so experimentell, gar "eingängig", "rhythmisch" und "tanzbar". Größte Vorschusslorbeeren erhielt Hiphop-Producer Timbaland, von den Medien zum Messias der Beat-Programmierung stilisiert. Seine Zuarbeit sollte sicherstellen, dass Björk sich nach dem sperrigen A Capella-Album "Médulla" nun wieder "auf der Höhe des Zeitgeists" befinde - als ob sie dort jemals gewesen sei, geschweige denn, dass sie dies als Erfolg definieren würde.

Ganz im Gegenteil. Björks einziger Bezug zum Zeitgeist ist, dass sie ihm in den besten Momenten ihrer Karriere zuvor kam. Ansonsten jedoch lebt sie in einer Art Paralleluniversum, in dem ihre Musik weder Vorbilder noch Ernst zu nehmende Nachahmer kennt, die sich guten Gewissens auf sie berufen dürften.

Und deshalb ist auch die vermeintlich zugänglichere Björk noch Lichtjahre von den Madonnas dieser (Musik-)Welt entfernt. "Volta" ist keineswegs das "eingängige" Album, mit dem sich umstandslos die Tanzflächen der Clubs füllen ließen, sondern eher ein Fall für die Choreografen des Tanztheaters: Musik im Grenzbereich zwischen Popkultur und Kunstperformance.

Wenn etwa die zehn(!) isländischen Blechbläserinnen zu Trompete, Flügelhorn und Tuba greifen, wird "Volta" feierlich, fast pathetisch - und immer wieder bizarr und irritierend. So ahmen sie am Ende des Album-Openers "Earth Intruders" Schiffshupen nach, bis die einzelnen Töne sich zu einem akustischen Schlepperballett formieren. Eine seltsame, aber Björk-typische Idee, eine scheinbar zusammenhangslose, alltägliche Geräuschkulisse als Albumsound zu entwickeln.

Nochmals anders ist die Perspektive, die Björks Stimme durch zwei Duette mit Antony Hagerty (Antony and The Johnsons) gewinnt. Der Star der New Yorker Subkultur bildet ausgerechnet mit seinem hohem, pointiert gesetztem Falsett einen intimen Ruhepol inmitten des rastlosen Gesangs der Isländerin und den verstörend dissonant gesetzten Drumloops. "Dull flame of desire" ist einer der schönsten Björk-Titeln seit Jahren.

Meditative Kraft bezieht "Volta" auch aus der chinesischen Pipa (Min Xiao-Fen) und der Kora aus Mali (Toumani Diabaté); traditionelle Instrumente, deren Ausdruck erstaunlichen Parallelen aufweist. Dass "Volta" dennoch kein Ethno-Album ist, versteht sich dabei fast von selbst. Denn Björk, die Neugierige, holt zwar immer wieder aufregende Kooperationspartner an Bord, doch lediglich, damit die sich ihrem Sound anpassen, nicht umgekehrt.

So behält sie auch auch bei Beats und Elektronik die Fäden in der Hand. Mit Mark Bell und Timbaland entwickelte sie hier ein energetisches, experimentelles Konzept, während die Brass-Section immer wieder in verschiedenen Variationen durch die Songs mäandert und einfache Harmonien verfremdet. Chris Corsano und Brian Chippendale (Drums, Percussions) müssen wahre Kraftpakete sein: nie zuvor arbeitete Björk mit so roh und gewaltig donnerndem Schlagwerk.

Wer den Vorabbeschreibungen von "Volta" Glauben schenkte, dürfte beim Hören deshalb eine Überraschung erleben. Denn die scheinbar unzusammenhängende Sammlung von introspektiven, meditativen Momenten und laut explodierdenden Songs ("Innocence", "Earth intruders", "Declare independence") reißt immer wieder aus der gerade gefundenen Stimmung und verschiebt dabei die eigenen Grenzen dessen, was man bislang als zumutbar und erträglich empfand.

Videolink: "Declare Independence" (Quelle: youtube.de)
 

Björk will diese Zumutung, will Gewohnheiten in Frage stellen, und daher bleibt auch "Volta" unberechenbar und nervig. Aber sie ist eine der ganz wenigen Musikerinnen, wie ihr der Spiegel attestierte, von denen man wirklich gern genervt wird, und mit jedem Hören öffnet man sich ihrem Universum etwas mehr. Ob daraus ein neuer "Zeitgeist" erwächst, das erkennt man erst hinterher, bei der Auseinandersetzung mit der nächsten Album-Zumutung.

© Michael Frost, 08.05.2007


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