Kürzlich
war irgendwo zu lesen, wie einfallslos es sei, jede Rezension einer
neuen Bowie-Produktion mit dem Hinweis zu beginnen, dass er, Bowie,
von Album zu Album jünger wirke.
Je
mehr man darüber nachdenkt, umso richtiger erscheinen beide Aussagen.
Ja, es ist einfallslos - Ja, er klingt immer jünger. Was also
soll man über "Reality" noch schreiben, wenn es denn
verboten ist anzumerken, dass Bowie bereits mit dem Opener "New
Killer Star" (auch die erste Single-Auskopplung) und dessen seltsam
vertrauten und dennoch brandneuem Rhythmus die imaginäre Mauer
zwischen Künstler und Zuhörer niederreißt wie ein
junger Musikgott ?
Oder:
Wie beeindruckend es ist, dass er, der 1999 mit "Hours"
und 2002 mit "Heathen" eine neue Phase seiner fast vier
Jahrzehnte währenden Karriere einläutete, nun ein weiteres
fantastisches Album - für Chronisten: das sechsundzwanzigste
(!) - veröffentlicht, wo es den meisten seiner deutlich jüngeren
Kollegen nicht einmal gelingt, auch nur einen einzigen Song in annähernder
Qualität zu produzieren ?
Tatsächlich
wären dies zwar keine falschen, aber zu oberflächliche Anmerkungen.
Versuchen wir es also von der anderen Seite. "Reality",
auch darauf wurde bereits verschiedentlich hingewiesen, knüpft
an Bowies frühere, rockige Werke an, es setzt überwiegend
auf schnörkellosen Gitarrensound, wirkt deshalb weniger "verkopft"
und kompliziert als die beiden Vorgänger-Alben - und lauter.
Ausnahmen wie der herrlich elegische Schlussakkord "Bring me
the Disco-King" bestätigen die Regel.
"Reality",
so könnte man den Titel interpretieren, soll die Wirklichkeit
unserer Tage widerspiegeln. Von dem Wahl-New Yorker Bowie erwartet
man eine Auseinandersetzung mit dem Terror des 11. September 2001,
doch für billige Klischees und bebendes Pathos ist er sich -
glücklicherweise - noch immer zu schade. In Interviews nimmt
Bowie, der jüngst den Schlusssong für "Dogville",
den neuen Film des dänischen Regisseurs Lars von Trier ("Idioten",
"Dancer in the Dark") beisteuerte, mit seiner Kritik an
der "Fast Food"-Kultur der USA kein Blatt vor den Mund.
Er
bewahrt sich eine distanzierte und kritische Meinung zur Politik der
Bush-Regierung - aber er ist kein politischer Protestsänger.
Statt dessen beschreibt er in "New Killer Star" die "große
weiße Narbe über Battery Park" - ein sensibler Versuch,
das Entsetzen in Worte zu fassen.
Und
auch mit dem Klischee der ewigen Jugend räumt er auf. "Never
get old" ist sein selbst-ironischer Abgesang auf unsere Lebenslügen:
"There's never gonna be enough drugs - and I'm never ever
gonna get old". "Reality", das ist für Bowie
gewissermaßen die 'Zeit des Erwachens': "I'm awake to
an age of light and I'm living it because of you" - eine
ehrliche Hommage an sein - spätes - Familienglück.
Also,
so die Botschaft hinter der Botschaft: Keine Angst vor dem Alter.
Mit Bowie alt werden heißt an Reife zu gewinnen, gewonnene Lebenserfahrungen
zu bündeln und in Kreativität umzusetzen. Dann kann man
der Realität gelassen entgegen sehen. Oder etwa nicht ? Bowie:
"I've been right and I've been wrong, now I'm back where I
started from. I never looked over reality's shoulder. Ha ha ha ha."
©
Michael Frost, 16.09.2003