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Die Rückkehr der kritischen Geister


Ein gewisses Unverständnis gegenüber den "italienischen Verhältnissen" ist wohl sowie unabdingbar bei der Betrachtung durch das Ausland, doch in den letzten Jahren wird man zunehmend ratloser über die Italiener, denen es einfach nicht gelingen will, einen Ministerpräsidenten loszuwerden, dem man hierzulande noch nicht mal eine Pizza Funghi abkaufen würde. Und auch wenn Luca Carboni, seit 1983 einer der profiliertesten und beständigsten Liedermacher ("cantautore") des Landes, sich auf seinem neuen Album nicht dezidiert gegen Berlusconi wendet, so hält wohl auch er die Zeit für klare Worte gekommen.

Das neue Album erinnert nicht nur dem Titel nach an die ersten italienischen Liedermacher, die in den 70er Jahren sozialkritische und politische Lieder veröffentlichten, mit denen sie die öffentliche Meinung des Landes viele Jahre lang beeinflussten, es ist vielmehr eine Sammlung von Cover-Fassungen, die Carboni unter seinem Oberthema "musiche ribelli" einspielte. "Eppure soffia", 1975 von Pierangelo Bertoli veröffentlicht, gilt etwa als erster Song, der die zunehmende Umweltzerstörung thematisierte. Luca Carboni nahm das Lied über die weltweite Ausplünderung natürlicher Ressourcen, sauren Regen und radioaktive Strahlenbelastung für "Musiche ribelli" neu auf und hält seinen sorglosen Landsleuten damit den Spiegel vor:

Seht her, so die unterschwellige Botschaft, ihr wisst es schon seit dreißig Jahren - und vor dem geistigen Auge erscheinen unvermittelt die Bilder von dioxinverseuchten Müllkippen rund um Neapel und die Aussagen von Ärzten zur überdurchschnittlichen Krebsrate der Anwohnerschaft.

Es ist der Titelsong selbst, der die beabsichtigte Wirkung großer Cantautori der 70er Jahre wie Francesco de Gregori, Francesco Guccini oder Lucio Dalla in beseelter Politlyrik beschreibt. Eugenio Finardi, der "Musica ribelle" 1976 schrieb, erzählt darin die Geschichte einer Heranwachsenden, die sich in Tagträumen und Schmonzetten verliert, um ihrer tristen Realität zu entfliehen. Doch eines Tages dringt Musik an ihr Ohr, die sie nicht mehr loslässt, Musik, die sie ihre kitschigen Liebesromane vergessen lässt und sie auf einen neuen Weg bringt: "E la musica ribelle // che vibra nelle ossa // che ti entra nelle pelle // che ti dica di uscire // che ti urla di cambiare // di mollare le menate // e di metterti al lottare ..." (Es ist die Musik des Aufruhrs // die dir durch Mark und Bein geht // die dir unter die Haut geht // die dir befiehlt hinauszugehen // die dich zur Veränderung zwingt // alles hinzuschmeißen // und dich dem Kampf zu stellen ...")

Finardi, Jahrgang 1953, und Luca Carboni, Jahrgang 1962, treten mit "Musica ribelle" inzwischen sogar gemeinsam auf, und es scheint, als treffe der Politpop der 70er Jahre auch heute wieder den Nerv vieler Italiener.

Um von einer Renaissance der cantautori zu sprechen, ist es allerdings wohl noch zu früh, selbst wenn es bereits Kollegen gibt, die an ähnlichen Projekten arbeiten. Den Italienern, allerdings nicht nur ihnen, könnte die Rückkehr der kritischen Geister gut tun, weil sie sie mit ihrer eigenen Geschichte konfrontieren und sich fragen müssen, weshalb es ihnen nie gelang, den linken, aufgeklärten Zeitgeist dieser Zeit jenseits von terroristischer Gewalt in politische Macht umzumünzen - und statt dessen das Feld weiter denen zu überlassen, die sie durch die Kunst bekämpfen wollten.

© Michael Frost, 21.06.2009


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