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Nicht gesucht
und doch gefunden


Ein Jazz-Album für jemanden, der eigentlich kein Jazz-Fan ist. Es gibt unzählige Versuche, solche Alben zu produzieren. Das Ergebnis ist meist weichgespülter Sound, eine sanft säuselnde, jede Kontur vermeidende Frauenstimme. Man fühlt sich wohl und hat hinterher alles vergessen. Aber das ist kein Jazz-Album mehr, sondern überflüssig.

Ein Jazz-Album für jemanden, der eigentlich kein Jazz-Fan ist, das war vor zwei Jahren "Climbing up", das Debüt-Album des Chris Gall Trio. Rau und ruppig, frech und fordernd, rast- und ruhelos, ein "Raubzug in fremde Gewässer" (Pressetext). Denn die Münchener hatten sich mit dem - gleichfalls aus München stammenden - Enik einen Sänger aus der Clubszene gefischt, der so sang, wie sie selbst ihre Instrumente spielen wollten: hastig, wie von einem inneren Drang getrieben, fordernd und ohne jede falsche Attitüde.

Mit "Hello stranger" legt dieses Überraschungsquartett nun sein zweites Album vor - und macht erfreulicherweise genau dort weiter, wo "Climbing up" aufhörte. Enik raunt den Titelsong - "Hello stranger" - heiser wie eh und je, während das Trio (Chris Gall, p / Axel Kühn, b / Peter Gall, dr) einen souveränen, bisweilen abgeklärten Boden ausbreitet, dem man die gewachsene Erfahrung unzähliger Liveauftritte in den vergangenen Jahren anzuhören glaubt.

Wie schon "Climbing up" ist auch "Hello stranger" nur gefühlt ein lautes, donnerndes Album: In Wirklichkeit gibt es ebenso viele ruhige, fast versponnen und in sich gekehrte Instrumentalpassagen. Doch die benötigt man auch, denn durch den Kontrast zu ihnen entfalten die druckvollen Stücke ("You fit perfect to me", "Tap the beat on the glass") überhaupt erst ihr ganzes Potential. Hier öffnen sich dann auch die Schleusen zu Indie-Pop und Post-Rock.

Die Funktion des Jazz hierbei? - "Jazz als letzte Freiheit alles zu spielen, was man fühlt", sagt Chris Gall in den Linernotes zum Album und liefert damit das programmatische Statement nicht nur für das Genre selbst, sondern für dessen Öffnung - hin zu den Beatles, zu Radiohead, zur Independent-Szene - aber auch zum Esbjörn Svensson Trio und "The Bad Plus", die mit ähnlicher Philosophie von den USA aus die gezielte Grenzüberschreitung propagieren.

Das Konzept geht auf. Chris Gall und Enik haben sich ursprünglich vielleicht gar nicht gesucht, aber trotzdem gefunden - und nun rollen sie sowohl die Jazz- als auch die Rockszene erneut von hinten auf, dass es eine wahre Freude ist.

© Michael Frost, 06.06.2010

 


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