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Ein Faible für die
Widersprüche


Einzelkindern wird oft nachgesagt, sie seien eigensinnig und in sich gekehrt, andererseits aber auch eigenständig und selbstbewusst. Diese Attribute passen haargenau auf die Musik des Einzelkinds Anja Garbarek. Musik wird in ihrer Kindheit immer ein großes Thema gewesen sein, immerhin ist ihr Vater Norwegens berühmtester Jazzmusiker der Gegenwart: Jan Garbarek.

Doch mit dem Jazz ihres Vaters haben Anjas visionen nur wenig gemeinsam. Beide sind enorm neugierig und experimentierfreudig, doch Anja Garbarek hat ihre Ohren schon früh in andere Richtungen aufgesperrt. So galt sie seit ihrer ersten internationalen Veröffentlichung ("Balloon mood" von 1996, das in Europa erst 1999 erschien) als norwegisches Pendant nordischer Kolleginnen wie Stina Nordenstam, Björk und Emiliana Torrini.

Und tatsächlich: Anja Garbarek liebte die leisen und schrägen Töne, die detailverliebte Frickelei, das Zusammenspiel von akustischen und digital erzeugten Elementen, die Disharmonien, Reibungen und Widerstände. So wurde sie zum Geheimtipp der nordischen Electronica-Szene, doch sie selbst schien nie besonders karriereorientiert zu sein. So ließ sie nach "Balloon mood" fünf Jahre vergehen, bis 2001 ihr Album "Smiling & Waving" fertig war. "Denk an einen Maler, der eine Ausstellung vorbereitet", sagt sie achselzuckend, "diesen Prozess kann man nicht beschleunigen. Mit der Entstehung eines Albums ist es nicht anders."

Also ließ sie wiederum mehrere Jahre verstreichen, bevor sie ins Aufnahmestudio zurückkkehrte. Zwischenzeitlich hatte sie in London gelebt und ist Mutter geworden, doch inzwischen lebt sie wieder in ihrer Heimat. Dort entstand auch "Briefly shaking", nach Kritikermeinung ihr bislang kommerziellstes Album, doch bei genauer Betrachtung ist festzustellen, dass Anja Garbarek ihr Faible für die Dissonanzen und Widersprüche keineswegs verloren hat.

Ihr Sound mag gefälliger geworden sein; ein Stücke wie "The last trick", aus dessen Text sie den Albumtitel entlieh, ist sogar ein veritabler Ohrwurm, doch in Wahrheit geht es in dem Song um die Erinnerung an besonders dunkle Stunden: "Damals dachte ich, es würde mein allerletzter Song."
Nicht minder düster sind auch Erfahrungen, die sie in anderen Stücken verarbeitet: "Sleep" erzählt die Geschichte einer entführten Frau, die in einem unterirdischen Bunker festgehalten wurde, und in "Can I keep him" geht es um einen Serienmörder.

Anja Garbarek kontrastiert diese düsteren Geschichten oft genug mit ihrer hellen, schmeichelnden Stimme, leichtfüßigen Melodien und sanften Arrangements. Und doch: trotz aller Eigenständigkeit und sicherem Gespür für die eigene Vision ist Anja Garbarekt keineswegs beratungsresistent. Sie gewann den norwegisch-isländischen Soundtüftler Gisli Kristjansson als Koproduzenten, und wenn es um den Einsatz von Saxophon und Streichinstrumenten ging, griff sie - wie schon früher - auf väterlichen Rat zurück: "Das ist der schönste Aspekt für mich bei der Entstehung eines Albums. So habe ich ihn als Menschen kennen gelernt, nicht nur als Vater."

© Michael Frost, 24.03.2006