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Wärme und Trost
von Hans Happel

 

Ein Blick über den Tellerrand: Anfang dieses Jahres erschien die Kantate eines slowakischen Komponisten, der sich als Musikologe sowie als Filmkomponist längst einen Namen gemacht hat und jetzt ein Werk vorlegt, das tief in den Traditionen geistlicher Musik verankert ist und die Kantaten-Form mit einer emotionalen Kraft revitalisiert, die die kathartischen und theatralischen Elemente barocker Kirchenmusik mit zeitgenössischer Tonsprache verbindet.

"Mater" heißt der sechsteilige Zyklus von Vladimir Godar. Der 1956 in Bratislava geborene Komponist hat die im Verlauf der letzten 10 Jahre entstandenen eigenständigen Stücke zu einem Gesamtwerk gebündelt, mit dem er die "Mutter" als Beschützerin, Trösterin, Trauernde und Himmelskönigin ("Regina coeli") besingt. "Mutter ist in der slawischen Welt zugleich auch ein Symbol für das Mutterland, und das Bild der Mutter, die ihren eigenen Sohn begraben muss, ist einer der erschütternsten Bilder unserer Vorstellungswelt, weil es die Fundamente und den Fortbestand des Lebens selbst in Frage stellt", erläutert Godar in seinem Kommentar zu "Mater".

Er hat keine katholische Messe geschrieben, sondern verbindet sakrale und weltliche Gesänge, lateinische und slowakische Textvorlagen, Jiddisches und Christliches zu einer überkonfessionellen Deutung des Themas. Dass Godar zunächst in 12-Ton-Technik und seriellen Kompositionsverfahren ausgebildet wurde, ist kaum mehr zu hören. Er entdeckte schon früh die Alte Musik für sich, als Cembalist begleitete er diverse slowakische Ensembles, die sich der historischen Aufführungspraxis verschrieben hatten, und in dieser Auseinandersetzung mit Alter Musik habe er - so schreibt Godar - seine Vorstellung von zeitgenössischem Komponieren von Grund auf geändert.

Während eines einjährigen Studienaufenthalts in Wien beschäftigte er sich vor allem mit der Vokalpolyphonie der Renaissance und er las den Roman "Doktor Faustus" von Thomas Mann, dessen 25. Kapitel für ihn zur Initialzündung bei der Arbeit an "Mater" wurde. Da diskutieren Adrian Leverkühn und der Teufel über Tradition und Emanzipation in Kunst und Musik, und der Teufel plädiert für das "Meisterwerk, das in sich ruhende Gebilde", das der traditionellen Kunst angehöre. "Unter dem Einfluss von Thomas Mann", schreibt Godar, "verlor ich den Glauben an den Fortschritt in der Kunst und entwickelte die Idee einer Art musikalischer Archäologie."

Der Archäologe verbindet den Gestus barocker Musik mit slowakischen Wiegenliedern, sein kraftvolles "Magnifikat" ist eine Hommage an Monteverdis "Marienvesper", zugleich erinnert es an Godars Vorbild Arvo Pärt. Godar legt über die traditionelle Intonation - mit großem Chor und Streichorchester - einen schrillen, zerreißenden Missklang, der ausgerechnet von einer Harfe angestimmt wird. So wird die Schönheit schockartig verletzt, aber gerade nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil: Hinter der überlauten Störung tritt sie umso deutlicher hervor.

Ein theatralischer Zeigefinger? Ein Trick des Filmkomponisten? Mag sein, aber dagegen sprechen die kammermusikalischen Partien dieser suggestiv anrührenden Musik, vor allem der Gesang der von Iva Bittova, die ebenso in der klassischen wie in der Volksmusik zu Hause ist, und deren Stimme und Tonfall jenseits aller Künstlichkeit etwas Authentisches in sich trägt, das sie selber "meine eigene, ganz persönliche Folklore" nennt.

Die Kantate "Mater" wurde mit dem slowakischen Barock-Ensemble "Solamente Naturali" aufgenommen, die Musiker spielen in der Tradition historischer Aufführungspraxis weich und transparent. Godars Werk wünschen wir, dass es sich unter den Kirchenmusikern herumspricht und irgendwann - wie heute Bach und Brahms, Arvo Pärt und Britten - zum Programm gehört, um in trüben und kälteren Novembertagen in angenehm geheizten Kirchenräumen Wärme und Trost zu spenden.

"Vladimir Godar: Mater"
ist ein Beitrag von Hans Happel für CD-KRITIK.DE
© Hans Happel, 18.11.2007


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