"Ich
versuche Musiker zusammen zu bringen, die zaubern können",
sagt Charlie Haden von den Musikern seines neuen Albums LAND
OF THE SUN/LA TIERRA DEL SOL, und in der Tat, sie zaubern.
Wie Charlie Haden zusammen mit dem Pianisten Gonzalo Rubalcaba
und weiteren fast ausschließlich südamerikanischen
Musikern klassische Stücke, Balladen und Liebeslieder
des mexikanischen Komponisten Jose Sabre Marroquin (1909 -
1995) in Jazz-Improvisationen verwandelt, das ist von einer
geradezu zauberhaften Abgeklärtheit, einer zwanglosen
Gelassenheit, zu der offenbar nur ein Altmeister in der Lage
ist, der seit 50 Jahren die Geschichte des Jazz nachhaltig
mitgeprägt hat.
Aus
dem revolutionären Stürmer und Dränger der
frühen FREE JAZZ-Jahre ist ein Weiser geworden, ein Verkünder
der Einfachheit, einer Musik, die unendlich schwer zu machen
ist, denn in ihrem Zentrum steht die Suche nach einer Langsamkeit
und Ruhe, aus der alle Aufgeregtheit verschwunden ist.
Es
ist Charlie Hadens Bass, der so tief in sich ruht, als könne
kein irdischer Schrecken mehr in diese Musik eindringen. Er
ist diskret, scheint immer im Hintergrund zu bleiben, und
auch dort, wo er solistisch heraustritt, klingt eine Bescheidenheit
durch sein Spiel, die ihresgleichen sucht. Von
den Liedern, die er auswählt, wünscht sich Haden,
"dass sie eine Bedeutung haben und schön sind, mit
wunderbaren Melodien und großartigen Akkordstrukturen."
Er
möchte kein speziell gebildetes Nischenpublikum ansprechen,
sondern "Leute erreichen, die nie zuvor ein Jazzkonzert
besucht haben". So tritt er mit seinem Duo-Partner Pat
Metheny beispielsweise in Kirchenräumen auf und kann
ein großes Publikum mit spirituell beseelten Klangwelten
begeistern, die gleichzeitig so geerdet sind - siehe seine
CD BEYOND THE MISSOURI SKY -, dass sie sich jeder esoterischen
Gefühligkeit verweigern.
"Ich
möchte", sagt Charlie Haden, "immer mehr Leute
an diese Kunstform des Jazz heranführen. Die brauchen
wir heute mehr denn je." Für sein LAND OF THE SUN
hat er lauter Spitzenmusiker um sich herum versammelt, jüngere
und ältere, die seiner Kunst der Reduktion folgen und
ihre virtuosen Fähigkeiten zu einem Ensemble bündeln.
Die
Idee zu diesem Album kam Haden letztes Jahr, als ihn Patricia
Mendes, die Tochter des verstorbenen Jose Sabre Marroquin,
nach einem Konzert aufsuchte, um sich bei ihm zu bedanken,
dass er auf seinem Album NOCTURNE mit dem Bolero NOCTURNAL
ein Stück ihres Vaters aufgenommen hatte. Sie überreichte
ihm eine Mappe mit Transkriptionen einiger weiterer Kompositionen
ihres Vaters und Haden machte sich mit seinem musikalischen
Partner Gonzalo Rubalcaba an die Arbeit. Der exil-kubanische
Pianist hat die rhythmisch und stilistisch sehr unterschiedlichen
Stücke für unterschiedliche Ensemblegrößen
und Klangfarben arrangiert. Da tauchen Flöte (Oriente
Lopez) und Trompete (Michael Rodriguez) auf, neben dem Tenorsaxophon
(Joe Lovano) gibt es ein Altsaxophon (Miguel Zenon), da spielen
der Gitarrist Lionel Loueke (aus dem westafrikanischen Land
Benin), der auch mit Wayne Shorter, Cassandra Wilson und Diana
Reeves arbeitet, und der Schlagzeuger Ignacio Berroa, der
Haden vor drei Jahren bei dem mit einem Grammy als bestes
Latin-Jazz-Album preisgekrönten NOCTURNE begleitet hat.
Mit
lässiger Eleganz und äußerst sparsam unterstreicht
Berroa die 10 Songs dieses Sonnen-Albums - neben acht Marroquin-Stücken
zwei populäre mexikanische Lieder, darunter den Klassiker
SOLAMENTE UNA VEZ, der in englischer Sprache - YOU BELONG
TO MY HEART - von Frank Sinatra und Elvis Presley aufgenommen
wurde. In LAND OF THE SON ist die Musik ein zarter Fluss,
ein träger Sommernachmittag, du liegst am Ufer und döst
vor dich hin, aber Charlie Haden hindert dich am Wegschlafen,
denn irgendwann beginnt dich der Zauber dieses sanften Spiels
so zu fesseln, dass du nur noch hinhören kannst: Etwa
auf das Wiegenlied CANCION DE CUNA mit seinen warmen Flötentönen
und der weichen Trompete, die zeitweilig jeden Rhythmus still
stellen wollen, etwa auf Rubalcabas Pianospiel, der mit feinem,
klassischen Anschlag allen Stücken eine unverwechselbare
Grundierung gibt.
Die
Grenzen zwischen ernster und populärer Musik geraten
ebenso ins Fließen wie die zwischen festen Arrangements
und Jazz-Improvisationen, und wenn man in Marroquins DE SIEMPRE
(FOREVER) eine Variation auf den Lennon-McCartney-Song MICHELLE
heraushört, sind auch die Grenzen zwischen Lateinamerika
und Nordeuropa plötzlich aufgelöst. Musik als Reise
nach Utopia, in ein Nirgendwo-Land, das auch die Beatles schon
besungen haben. Charlie Hadens LA TIERRA DEL SOL dürfte
eine der besten Jazz-Alben dieses Jahres sein.
©
Hans Happel, 11. September 2004