"Glauben
Sie wirklich, dass Musik die Menschen verändern kann?",
wurde Charlie Haden kürzlich in der Berliner tageszeitung
(taz) gefragt. Anfang November hatte der amerikanische Bassist
das Berliner Jazz-Fest mit einer Bigband eröffnet, die
er 1969 ins Leben gerufen hatte und die er immer dann um sich
schart, wenn er mit seiner Musik politisch Stellung nehmen
will. "Not in our name" heißt das jetzt erschienene
vierte Album des LIBERATION MUSIC ORCHESTRA, auf dessen Cover
die 12 Musiker unter demselben roten Banner versammelt sind,
das schon das legendäre erste Album schmückte.
War
die "linke Eingreiftruppe des Jazz" (taz) damals
mit Liedern aus dem spanischen Bürgerkrieg und mit chilenischen
Befreiungsliedern angetreten, so sind es jetzt amerikanische
Traditionals, Gospels, klassische Motive und Pop-Songs, die
alle ein Thema haben: Es sind Hymnen an die und aus der Neuen
Welt, es sind nostalgische, trauernde, elegische Beschwörungen
einer anderen Zeit.
"Für mich war klar", sagt Haden im taz-Interview
(3. 11. 2005), "dass ein Album, das sich 2005 mit dem
Niedergang der amerikanischen Werte und der Erinnerung an
ein anderes Amerika befasst, aus Songs amerikanischer Komponisten
bestehen muß: Denn ich verdamme ja schließlich
nicht das Land, das ich liebe".
Nein,
Charlie Haden verdammt nicht, er besingt sein Land in Form
einer Totenklage, er hat ein "Amerikanisches Requiem"
geschrieben, ein Stück für Chor und Solisten. Seine
Arien und Ariosi sind die großzügig angelegten
längeren und kürzeren Solopassagen, seine Choräle
die Melodien, die jedermann im Ohr hat. Das Titelstück
"Not in our name" ist eine Eigenkomposition von
Charlie Haden, mit der er den Weg für diese Musik weist.
Das
volkstümliche, langsame Walzermotiv könnte von einer
mexikanischen Dorfkapelle aufgespielt werden, erst wenn der
schlichte Ensemblesatz aufgelöst wird, dürfen die
Solisten brillieren. Und wie! Charlie Hadens wunderbare Gelassenheit
geht auf sie über. Es sind unglaublich schöne Soli,
die in mehreren Stücken u.a. vom Altsaxophonisten Miguel
Zenon oder vom Trompeter Michael Rodriguez (beide wirkten
auf Hadens letztjährigem Grammy-Album "Land of the
sun" mit) zwischen die bekannten Hymen gesetzt werden.
Haden
spannt LMO-Veteranen (darunter die Waldhornspielerin Sharon
Freeman, den Tubisten Joe Daley) mit exzellenten jüngeren
Musikern zusammen, darunter den Gitarristen Steve Cardenas
und den Drummer Matt Wilson. Ihre Improvisationen scheinen
die Zeit aufzulösen. Sie sprechen die Sprache der Schönheit,
die Charlie Haden und seine Arrangeurin Carla Bley, musikalische
Genossin seit der ersten Stunde des LMO, als Kampfmittel einsetzen.
Nicht
Zerstörung ist das Ziel, nicht einmal Zersetzung: Wenn
Carla Bley aus "America the Beautiful", der Gospel-Hymne
"Lift Every Voice and Sing" und Ornette Colemans
"Skies Over America" ein Medley bastelt, dann verfremdet
sie zwar den allzu bekannten Ohrwurm und kratzt mit einer
kurzen Free-Jazz-Sequenz am sentimentalen Pathos, aber schön
bleiben diese Stücke dennoch. In ihrem "Blue Anthem"
fegt sie die skizzenhaft angedeuteten Marschmusik-Zitate mit
schwermütigen und dennoch leicht parlierenden Soli kurzerhand
beiseite.
Wenn
das Ensemble "Amazing Grace" intoniert, dann ist
diese Bläser-Adaption nicht weniger ergreifend als traditionelle
Gospel-Versionen. Charlie Haden mischt sich hier mit seinem
Bass heftiger ein als anderswo, er tritt ausnahmsweise in
den Vordergrund und übernimmt die Melodie. In der taz
erzählt der 68-jährige, wie er das Lied bei seinen
Großeltern in Missouri gehört habe, die Amazing
Grace als Countryhymne in der Kirche gesungen hätten.
"Wenn Sie solche Momente der Würde und des hoffnungsfrohen
Glaubens als Kind erlebt haben, dann erinnern Sie sich gerne
daran, dass es einmal ein anderes Amerika gegeben hat."
Eng
gestrickt und aufeinander bezogen sind die letzten 3 Stücke
des Albums: "Going Home", der Adagio-Satz aus Antonin
Dvoraks Symphonie Nr. 9 "Aus der neuen Welt", lebt
von seiner populären, getragenen Melodie (die Trompeter
Michael Rodriguez zu einem weich und warm intonierten Solo
inspiriert), Bill Frisells minimalistisch-leises "Throughout"
von elegant ausgreifenden Saxophon- und Trompetensoli und
das berühmte Adagio des Komponisten Samuel Barber noch
einmal von der schlichten Dorfkapelle, vom gesamten Ensemble,
das die Klage zum Schluß immer höher schraubt,
bis man den Eindruck hat, diese Musiker weinen auf und mit
ihren Instrumenten.
Kann
Musik die Menschen verändern? Charlie Haden hat diese
Frage nicht wirklich beantwortet. Natürlich nicht. Er
hat darauf hingewiesen, dass die erste Platte des Liberation
Music Orchestra von einem der Autoren der JAZZ TIMES gerade
zur besten Platte der letzten 35 Jahre gekürt worden
sei und er ergänzt: "Der Autor hat begriffen, worum
es mir damals wie heute geht. Meine Musik ist aufbauend und
melancholisch zugleich." Sie berührt, gerade weil
sie so einfach ist, sie rettet die feierlichen Töne für
ein anderes Amerika, sie entzieht diese Hymnen denjenigen,
die unter ihrem patriotischem Pathos eine schmutzige Politik
verstecken.
©
Hans Happel, 27. November 2005