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Schroffe Schönheiten


"I can't get no ... satisfaction". Der gemeinsame Auftritt von P.J. Harvey, Tori Amos und Björk, Anfang der 90er Jahre bei einer Preisverleihung in New York, ist unvergessen. Die drei an sich so gegensätzlichen Sirenen dokumentierten damit eindrücklich, dass die Vormacht der Männer gebrochen war. Wie selbstverständlich bemächtigten sie sich der Stones-Hymne und machten sie zum Manifest der Frauen in der Rockmusik.

Neben der exaltierten Björk und der sinnlich-versponnenen Tori Amos profilierte P.J. ("Polly") Harvey sich zunächst als Rockröhre im eigentlichen Sinn. Zwar machten nicht nur ihre Alben, sondern spätestens auch die Wahl von Duett-Partnern wie Thom Yorke die Nähe zum Experimentellen und zum Post Rock deutlich, doch wer die zierliche Sängerin mit der aufbrausenden Stimme einmal live sah (so etwa bei Festivalauftritten 2004 in Deutschland mit ihrem Album "Uh huh her"), konnte die Britin noch einmal als ausgemachte Gitarren-Rockerin erleben.

Inzwischen ist die Biografie von P.J. Harvey um einige nicht eben uninteressante Projekte reicher. Sie stellt Plastiken aus, veröffentlicht Gedichtbände und schreibt Musik für andere. Etwa für Marianne Faithfull, gewissermaßen eine weitere sister in arms, deren gefeiertes Album "Before the poison" sie auch produzierte.

Nun allerdings ziert sie wieder selbst ein Albumcover. Doch erkennen kann man sie darauf zunächst nicht, ebenso wenig ihren Gesang. Man sieht sie im züchtigen weißen Kleid vor schlichtem Hintergrund, die Hände brav gefaltet, die Puffärmel fein drapiert, das Gesicht überbelichtet. Nur die Haare fallen ungezügelt. Ein Haarknoten, ein Kopftuch gar, das Bild der gestrengen Familienmutter einer christlichen Sekte wäre perfekt.

Doch in Wirklichkeit ist P.J. Harvey nur in eine neue Rolle geschlüpft. Rückblickend hat sie das schon immer getan und sich mit jedem ihrer Projekte neu erfunden, wenn auch nie so radikal wie mit "White chalk".

Ihre Songs sind überraschend leise, als habe sie die E-Gitarre mit einem Bann belegt und statt dessen Klavier und klingenden Gläsern ihren Segen erteilt. Ihre Stimme hat sie einfach eine Oktave nach oben verlegt, und so klingt sie fast wie ein Chorknabe kurz vor dem Stimmbruch, als sie den Eröffnungssong intoniert: "As soon as I'm left alone // the devil walks into my soul ..." Die düsteren Gedanken sollen sie darauf hin nicht mehr verlassen, und vermutlich wird "White chalk" als das "schwarze Album" in das Werk der P.J. Harvey eingehen, auf dem sie mit Concertina, Klavier, Harfe und Mundharmonika die Grenzen der Kammermusik neu erfindet.

Wäre ihr Klavier ein Bösendorfer Flügel, "When under ether" könnte als lupenreiner Tori-Amos-Song durchgehen, doch in P.J. Harveys Stimme schwingt auf diesem Album immer auch ein bestürzender Ausdruck von Trauer, Gebrochenheit und Verzweiflung mit, den Tori Amos im Anblick des Abgrunds immer noch in Wut verwandelt und zum Gegenangriff übergeht. P.J. Harvey hingegen lässt sich gehen und ihr Publikum einsam zurück.

Um sich "White chalk" zu öffnen, muss man die P.J. Harvey, die man vorher kannte, einfach vergessen, aufhören, nach Vertrautem zu suchen und einen Schritt zurücktreten. Das öffnet den Blick für die seltsame, schroffe Schönheit dieser Produktion, schafft Zugänge zu einer zerklüfteten Soundlandschaft und ihren frostigen Harmonien aus Eiskristall.

Schließlich wird auch P.J. Harvey in ihrer Musik wieder erkennbar. Die spürbare Hast, mit der sie ihre Lieder inszeniert (kaum ein Song erricht die Grenze von drei Minuten Spieldauer), lässt die Energie der multi-talentierten Künstlerin erkennen. Wo Tori Amos ihre Alben bis an den Rand mit Songs füllt (oft sind es mehr als zwanzig) und Björk für ihre Alben Klangkünstler aus aller Welt zusammentrommelt, als habe sie Angst, auch nur eine relevante Idee zu verpassen, da hetzt P.J. Harvey rast- und ruhelos von Idee zu Idee, von Figur zu Figur, von bildender zu schreibender Kunst und wieder zurück.

Das gemeinsame Motto haben sich alle drei über die Jahre bewahrt: "I can't get no satisfaction".

© Michael Frost, 19.05.2001

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