Julia
Hülsmann ist eine Entdeckerin: Die Jazz-Komponistin und Pianistin
hat ein feines Gespür für gute Stimmen. Sie hat zugleich
die Fähigkeit, sie auf eine Weise in ihre musikalisch-poetischen
Konzepte einzuspannen, dass sie sich geradezu atemberaubend stimmig
entfalten können. Das galt für Rebekka Bakken, mit der Julia
Hülsmann die eigenen Vertonungen von Gedichten des amerikanischen
Avantgarde-Lyrikers E.E. Cummings einspielte ("Scattering Poems"),
sowie für Anna Lauvergnac, der sie ihre Randy-Newman-Hommage
anvertraute ("Come Closer").
Und
jetzt gilt es für Roger Cicero, dessen faszinierend bewegliche
Stimme Julia Hülsmann für die späten Gedichte einer
ungewöhnlichen Frau einsetzt: "Sag die ganze Wahrheit, aber
sage sie schräg" lautet eine programmatische Gedicht-Zeile
der amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson (1830 - 1886), die -
in einer streng calvinistischen Familie aufgewachsen - ihr ganzes
Leben zurückgezogen im ländlichen Amherst / Massachusetts
verbrachte.
In
ihren unkonventionellen Versen, die fast ausnahmslos posthum veröffentlicht
wurden, spricht sie von Leben und Tod, Liebe und Enttäuschung,
Natur und Alltagsleben. Wie können diese stillen Klagelieder
mit Jazz und Pop einhergehen?
Julia
Hülsmann gelingt der Brückenschlag mühelos. Die strenge
Strophen-Form der Gedichte, am protestantischen Kirchenlied geschult,
kommt der Komponistin offensichtlich entgegen: Sie verzichtet auf
süffig-sentimentales Melos, ihre Melodielinien sind einfach und
komplex, gestrafft und in ein enges minimalistisches Korsett gezwängt,
zugleich aber stets mit einem swingenden oder gar rockigen Unterboden
versehen.
Eine
zurückhaltende, unterkühlte Melancholie spricht aus ihren
wenigen Piano-Zwischenspielen, die Marc Muellbauer am Bass mit seinen
weichen und temporeichen Improvisationen noch verstärkt, während
Drummer Heinrich Köbberling elegant und gelassen für rhythmische
Raffinesse als Gegengewicht sorgt.
Es
ist vor allem Roger Cicero, der diese formbewussten, hintergründigen
Lieder buchstäblich zum Swingen bringt. Die Stimme des 35-Jährigen
"Soulounge"-Sängers ist hinreißend schön,
verführerisch introvertiert schafft sie Nähe und Distanz
zugleich, sie kann warm und weich sein, um sich im nächsten Moment
silberhell und virtuos zu weiten, hohen Bögen aufzuschwingen,
in denen der kultivierte Stil eines Kurt Elling anklingt.
So
gelingt es ihm, die Farben der Lyrik Emily Dickinsons ebenso hörbar
zu machen wie die musikalischen Farben Julia Hülsmanns. "Good
Morning Midnight" ist der doppelbödige Titel des Albums,
aber auch in anderen Liedern ist nichts so, wie es aussieht, nichts
ist sicher, auch nicht das Frühlingslicht ("Light"),
und nur die Erinnerung hält fest, was vergangen ist.
In
diesen Rahmen fügt sich zwanglos ein Stück des früh
gestorbenen englischen Songwriters Nick Drake ein, jenes ohrwürmige
"Riverman", das Brad Mehldau kürzlich ("Live in
Tokio") in ein kongeniales Pianosolo verwandelt hatte. Julia
Hülsmann liebt die kleinen musikalischen Phrasen, die stets wiederholten
Riffs, in "Tell her" gibt das Piano mit treibenden Achtelnoten
den Rhythmus vor, die Schlusszeile ("Gesture, coquette, and shake
your head!") wird durch mehrfache Wiederholung und Zweistimmigkeit
hervorgehoben.
Immer
wieder unterstreicht die Komponistin mit diskreten musikalischen Mitteln
besondere Textzeilen. "She did not sing as we did/It was a different
tune" beginnt eine Strophe aus "One Sister", die Roger
Cicero refrainartig wiederholt. Julia Hülsmann nimmt den Gedichten
Emily Dickinsons nicht ihre Fremdheit, obwohl die Musiker alles tun,
um dieses geheimnisvolle Fremde, diese "different tune"
zum Fließen und das heißt, zu Gehör zu bringen. Das
Ergebnis ist beglückend gelungen.
Mit "Good Morning Midnight" legt Julia Hülsmann ihr
bislang bestes und reifstes Album vor.
© Hans Happel, 04. Februar 2006