vorschau  SOPHIE HUNGER
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Kunstwerk in Sachen Atmosphäre

 

Es klingt paradox, und doch lässt sich mit einigem Recht behaupten, dass die wahren Europäer in Sachen Musik - Sie lesen richtig: die Schweizer sind. Ausgerechnet dieses Volk, das offiziell die Isolation bevorzugt und sich der Integration entsprechend verweigert, obwohl jedermann weiß, wie eng die Schweiz seit langem mit ihren Nachbarn verbunden ist. Laut sagen darf man das allerdings nicht.

Es sei denn, man ist Musiker. Von Stephan Eicher, der seine Karriere einst als Star der Neuen Deutschen Welle begann ("Eisbär"), später zum gefeierten Chanson-Poeten wurde ("Déjeuner en paix") und inzwischen nicht selten viersprachige Alben veröffentlicht: Schwytzerdütsch inklusive.

So macht es auch Sophie Hunger. Die gebürtige Bernerin landete vor zwei Jahren mehr als nur einen Achtungserfolg, als sie ihr zweites Album "Monday's Ghost" veröffentlichte. Die Musikwelt feierte "die Eigenartige aus dem Land der Eigenarten" (Pressetext) als hoffnungsvollen Stern am Songwriter-Himmel, und tatsächlich: "Monday's Ghost" mit all seinen atmosphärischen, düsteren und spannungsgeladenen Sounds irgendwo zwischen Regina Spektor, Keren Ann, Feist und P.J. Harvey.

"1983", benannt nach dem Geburtsjahr der Interpretin, ist nur der Nachfolger, "wo sind deine Kinder, wo sind deine Dichter?" fragt sie, als ob sie die Antwort nicht wüsste - ist Sophie Hunger doch selbst eine Dichterin dieser Generation, die - in der Schweiz und anderswo - während des Kalten Krieges geboren wurde, ihn jedoch bewusst nie wirklich erlebte, weil sie gerade erst schulpflichtig wurde, als der Ostblock zusammenbrach. Schon eher ist Sophie Hungers Altersgruppe geprägt von der Unordnung, die seitdem herrscht, und eine gewisse Ratlosigkeit kennzeichnet auch ihre Musik.

"1983" ist schön und traurig, traurig und schön, aber von einer stillen Schönheit, die nicht blendet, sondern umhüllt, gefangen nimmt und wärmt, trotz aller Melancholie. Kluge Arrangements, mit denen sie die Atmosphäre ihrer Lieder verstärkt, sind das eine. Ihre lautmalerische Fähigkeit ist das andere. Nicht nur die Texte, auch der Klang der Worte unterstreicht nämlich die Stimmung, und die Vielfalt der Sprachen hilft ihr, ihre Ausdrucksmöglichkeiten zu vervielfachen. Es gibt Lieder, die man einfach nicht in jeder Sprache singen könne, sagt Sophie Hunger. In einem Interview wählte sie das Beispiel von Brels "Ne me quitte pas". In keiner anderen Sprache als Französisch sei dieses Lied möglich, ist sie überzeugt.

Und so wählt sie die Sprache auch für ihre eigenen Lieder fast intuitiv: "1983" auf Deutsch, ihrer Familiensprache, rockbetonte Stücke wie "Your personal religion" auf Englisch, das wunderschöne, sehr intim arrangierte "D'Red" auf Schwyzerdütsch, und "Le vent nous porterà" auf Französisch.

Sophie Hunger - Le Vent nous portera from KIDAM on Vimeo.

Dieses Lied stammt allerdings nicht aus ihrer eigenen Feder, sondern ist eine Coverversion. Das Original ist einer der größten Hits der französischen Rockband "Noir Désir", die sich später auflöste, nachdem Bandchef Bertrand Cantat seine Lebensgefährtin, die Schauspielerin Marie Trintignant getötet hatte und in einem Aufsehen erregenden Prozess zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Dass Sophie Hunger sich ausgerechnet dieser - seit dem Delikt weitgehend gemiedenen - Band widmet, ist sicherlich ein gezielter Tabubruch, den sie dadurch abfedert, dass ihre Version mit dem Original praktisch nichts mehr gemein hat: Es wirkt wie eine Distanzierung. Wo Noir Désir sich noch auf luftigen Latin-Rhythmen davontragen ließen, bleibt sie Gedanken verloren am Boden. "Le vent nous portera" ist in ihren Worten eher Hoffnung denn Gewissheit, in einer fragilen Mischung aus Melancholie und leisem Optimismus - ein Kunstwerk in Sachen Atmosphäre, wie das gesamte Album.

 

 

© Michael Frost, 11.04.2010


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