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            sei die Muse von Nick Cave, sagt man über Anita Lane. Was immer 
            das heißen soll, und was auch immer das über ihre bisherige 
            Tätigkeit sagen soll. Ein Klischee eben, weiter nichts, ein Klischee, 
            das nichts bedeutet außer: Hinter jedem großen Mann steht 
            eine Frau. Wohlgemerkt dahinter, nicht etwa neben oder gar vor ihm. 
            Das könnte sich ändern: Sollte sie sich je mit der Musenrolle 
            ausgefüllt gefühlt haben, dann hat sie sich unter Wert gekauft, 
            wie jetzt ihre eigene Platte bestätigt:
          "Sex 
            O'clock", ihr zweites Album nach achtjähriger Pause, ist 
            neben (abgesehen von dem pubertierenden Albumtitel) eine reife Leistung, 
            ein Kraftakt, der nachhallen wird und ein nicht zu leugnender Beweis 
            der eigenständigen Schaffenskraft der Anita Lane ist.
          Lasziv 
            haucht sie ihre von Leidenschaft und mit verstörender Offenheit 
            ("I think that I'll just make love to the next man that I see 
            ..."). Ähnlich betörend und libidinös präsentiert 
            sich Anita Lane auch auf allen anderen Titeln des Albums, aber die 
            schwierige Gratwanderung zwischen frivoler Erotik und dumpfem Voyerismus 
            bewältigt sie mit Bravour und oft mit der notwendigen Portion 
            (Selbst-)Ironie.
          Melancholisch 
            flüsternd, sinnlich hauchend, dann süß und selbstvergessen 
            wie vor sich her summend: Gleich einer Sirene beherrscht Anita Lane 
            alle erdenklichen Register, Seeleute um den Verstand zu singen und 
            ihre Schiffe untergehen zu sehen, und im Zusammenspiel mit den treibenden 
            Grooves und ausladenden Streichersequenzen wird "Sex O'Clock" 
            zum elektrisierenden Genuss. 
          Unterstützt 
            wird die aus Melbourne stammende Loreley von Mick Harvey, Mitglied 
            in Nick Caves kongenialer Band "The Bad Seeds", mit dem 
            Anita Lane eine langjährige musikalische Partnerschaft verbindet. 
            Ähnlichkeiten mit dem existenzialistischen Düsterpop Caves 
            sind unvermeidlich: Auch bei Anita Lane findet man diese herrlichen 
            Momente, in denen die Musik eine Stimmung verbreitet, drohend und 
            kribbelnd wie vor einem nahenden Gewitter. Besonders gelungen in dieser 
            Hinsicht ist der letzte und wohl überraschendste Song des Albums, 
            nämlich die superbe Coverversion des italienischen Partisanen-Lieds 
            "Bella ciao".
          Anita 
            Lane wird vermutlich nicht länger nur als Muse Nick Caves gelten 
            können. Vielleicht ist er im Gegenteil ihre Muse für die 
            Entstehung von "Sex o'clock" gewesen - oder sie spielen 
            diese Funktion gegenseitig - ganz gleichberechtigt - und nebeneinander. 
            
            
          MF 
            / 08. September 2001