"Inkompatibel". 
            So analysiert die französische Musikexpertin Anne Greffe das 
            Verhältnis zwischen Lhasa de Sela und der Medienbranche und bringt 
            damit die Schwierigkeit zum Ausdruck, die Musik der US-amerikanisch-mexikanisch-kanadisch-französischen 
            Interpretin beschreiben - oder gar einordnen - zu wollen. Wohl aus 
            derselben Ratlosigkeit verlieh man ihr 1998 in den USA den "Juno 
            Award" für das beste "Weltmusik"-Album des Jahres 
            - in andere Kategorien hätte Lhasa noch weniger gepasst. 
          Vielleicht 
            aber ist Lhasa überhaupt eine der ganz wenigen Künstlerinnen, 
            für deren Arbeit das Etikett "Weltmusik" tatsächlich 
            zutrifft. Denn ihre Musik ist nicht einer bestimmten geografischen 
            Region oder einem Kulturraum zuzuordnen, sondern bedient sich (fast) 
            weltweit. "Vorbilder für ihre Musik", heißt es 
            zutreffend im Pressetext, "gibt es nicht". Aber künstlerische 
            Verwandte, und die gehören durchweg zur ersten Liga: Billie Holiday, 
            Chavela Vargas, Tom Waits, Cucu Sanchez, Maria Callas, Victor Jara 
            und Jacques Brel. 
          Wo 
            eben noch mexikanische Folklore durchschimmerte, ist im nächsten 
            Augenblick nur ein elegisches Chanson zu hören. Dann wieder verströmt 
            Lhasas Gesang den Duft amerikanischer Folksongs, allerdings nur, um 
            kurz darauf in temperamentvolle Varieténummern umzuschlagen. 
            "Dieses Album passt sowieso in keine Schublade", schrieben 
            wir selbst in unserer CD-Kritik über ihr Debüt "La 
            Llorona", "also lassen wir es einfach im CD-Player weiterlaufen 
            ".
          Jetzt 
            allerdings muss die Platte doch gewechselt werden, denn Lhasa de Selo 
            hat einen Nachfolger präsentiert, und der hat es wiederum in 
            sich: Auf "The living Road" präsentiert sie sich nochmals 
            wandlungsfähiger und variationsreicher, begeistert auch durch 
            sehr ruhige Stücke, auch in sprachlicher Hinsicht: Der Herkunft 
            ihrer Rhythmen entsprechend wechselt sie zwischen Spanisch, Englisch 
            und Französisch.
          In 
            Frankreich hat sie sich inzwischen dauerhaft niedergelassen. Aufgewachsen 
            ist sie dagegen irgendwo auf der Strecke zwischen New York, der Heimat 
            ihrer Mutter, und Mexiko, der Heimat ihres Vaters. Später lebte 
            sie in Kanada, wo auch "La Llorona" entstand. Zwischen dem 
            ersten und dem neuen Album liegen fünf Jahre - ein Risiko für 
            eine junge Künstlerin, deren Debüt zwar ein durchschlagender 
            Erfolg war (allein in Frankreich wurden 100.000 Exemplare verkauft), 
            die aber noch beweisen muss, dass es sich nicht um einen einmaligen 
            Zufallstreffer handelte.
          "The 
            Living Road" räumt jeden Zweifel restlos aus. Die klaren, 
            mitreißenden Songstrukturen, die transparenten, viel Atmosphäre 
            verbreitenden Arrangements wirken sofort. Den Rest besorgt Lhasas 
            Stimme: von ungeheurer Präsenz, rau und doch weich und gefühlvoll, 
            ungekünstelt, hintergründig und mysteriös singt sie 
            sich direkt unter die Haut, so etwa in der von Klavier begleiteten 
            Ballade "Pa llegar a tu lado", aber auch in den rhythmischen 
            Stücken zu Beginn des Albums ("Con toda palabra", "La 
            marée haute").
          Die 
            lange Vorbereitungs-, bzw. Wartezeit hat sich gelohnt, auch wenn Fans 
            und Plattenfirma sich ein neues Lhasa-Album schon viel früher 
            gewünscht hätten. Aber wir wissen ja, die Beziehung zwischen 
            Lhasa und der Musikbranche ist vor allem eines: inkompatibel. 
          
          
          © 
            Michael Frost / 31. Januar 2004