Suchen nach:
In Partnerschaft mit Amazon.de

Karma und Koma

 

Die besten Songs in der Geschichte von Massive Attack waren pure Hypnose. "Karmacoma" von ihrem 1995er Album "Mezzanine" steht sinnbildlich, aber auch wörtlich für den Zustand, den die Band mit ihrem speziellen Sound zu erzeugen wusste, für den schließlich, trotz des Widerstandes der Gruppe, ein eigener Name gefunden wurde: Triphop.

Die atmosphärische Verdichtung von Drums&Bass, Electronica, Dub, Jazz-Elementen und Hiphop hat viele Nachahmer gefunden, doch bis heute konzentrieren sich sämtliche Hoffnung auf die Weiterentwicklung des Triphop auf dessen unfreiwillige Begründer, zu denen neben Massive Attack auch die ebenfalls aus Bristol stammenden Kollegen von Portishead gehören. Die kehrten nun gerade im vergangenen Jahr - nach zehnjähriger Albumpause - mit ihrer dritten CD ("Third") triumphal zurück. Die Absenz von Massive Attack währt ähnlich lang, jedenfalls dann, wenn man ihr letztes Studioalbum "100th window" von 2003 wie die meisten Kritiker als Solowerk von Bandgründer Robert del Naja alias "3D" betrachtet.

So gesehen ist "Heligoland" das erste wirkliche Massive Attack-Album seit 1998, und Fans dürften zunächst erleichert, an vielen Stellen auch begeistert aufatmen: "Heligoland" hat viele ungemein starke Songs und Momente, in denen Massive Attack in Höchstform zu genießen ist. Bereits der Eröffnungssong "Pray for rain" mit seinen repetitiven Beschwörungsformeln, den drohenden Drums und dem unheilschwangeren Soul in der Stimme Tunde Adebimpe, dem Sänger der New Yorker Band "TV on the Radio", präsentiert die Soundspezialisten in Bestform. Grandios, wie Tempo und Dramatik im Verlauf des Stücks angezogen werden - um schließlich in einem bonbonfarbenen Chor-Intermezzo aufzugehen - bis die düstere Dramatik zum Abschluss kulminiert.

Noch stärker ist der Eindruck, den "Girl I love you" hinterlässt. Schon die Hihats sind Massive Attack-typisch, der wummernde Bass, der betont lakonische Gesang von Horace Andy, doch der Sound wird hier von dröhnenden Bläserfanfaren angeheizt, die den Schiffssirenen von Björks jüngstem Album "Volta" entlehnt sein könnten. Doch anders als die versponnene Isländerin, und auch anders als das jüngste Album von Portishead, finden Massive Attack immer wieder, fast stoisch, zu einem tanzbaren Grundrhythmus aus Karma und Koma (sic!) zurück.

"Splitting the atom", die Vorab-Singleauskopplung ist für diese Fähigkeit, Eingängigkeit zu erzeugen, ohne oberflächlich oder beliebig zu werden, ein ebenfalls gelungenes Beispiel - aber längst nicht der stärkste Song des Albums. Schon die Single enthielt mit dem Remix von "Bulletproof love" ein unter die Haut gehendes Gegenstück: ein schwarzer Sounddiamant des Underground.

Die Nähe zu den elektronischen Experimenten von Radiohead stellt "Flat of the blade" unter Beweis, wiederum ergänzt durch ein Bläserensemble, das man nicht hören kann, ohne an Björk zu denken. Wirklich nötig ist dieser Versuch nicht, denn interessant daran ist nur, diesen introvertiert wirkenden Computersound einmal ohne Björks expressive Sirenenstimme oder Thom Yorks Klagegesang zu hören - deren Part übernimmt Gastsänger Guy Garvey.

Insgesamt sind es wieder die coolen, bisweilen unterkühlten Triphop-Stimmen, die "Heligoland" prägen: Neben Robert del Naja und Horace Andy sowie den bereits genannten Gästen sind diesmal Martina Topley-Bird und Damon Albarn mit von der Partie, wobei Albarn klug genug war, seinen Part in "Saturday come slow" so zurückhaltend zu gestalten, dass man ihn zunächst kaum erkennt. Denn die Erfahrung aus "100th window", für das del Naja Sinéad O'Connor engagiert hatte, zeigt, dass allzu charismatische, eigenständige Stimmen bisweilen zu sehr vom atmosphärischen Klangkonzept ablenken können: Massive Attack benötigt Stimmen, die sich wie Orchesterinstrumente in ein Ensemble einfügen.

Topley-Bird, Albarn, Hope Sandoval und alle anderen passen sich bereitwillig in das Konzept von "Heligoland" ein - dessen letztes Rätsel der Albumtitel selbst bleibt: Helgoland, die rote Felseninsel in der Nordsee, die einst zu Großbritannien gehörte. Der lautmalerische Name, aber auch die wechselhafte Geschichte der Insel habe ihn beeindruckt, erklärt Robert del Naja. Man sollte sich dennoch nicht in die Irre führen lassen. Massive Attack geben sich nicht der Beschreibung von Klanglandschaften hin: Auch "Heligoland" ist eine Vertonung einer urbanen Realität.

 

© Michael Frost, 31.01.2010


[Archiv] [Up]