Rituale 
            sind in der westlich geprägten Gesellschaft ziemlich aus der 
            Mode geraten. Als Akt der Zelebrierung der eigenen Kultur oder Religion 
            hängt ihnen der Ruch der Rückständigkeit an, des Konservatismus, 
            des Irrationalen, letztlich all der Dinge, die dem vermeintlich aufgeklärten 
            Mitglied der postindustriellen Gesellschaft suspekt und dem gut situierten 
            Großstadtbürger ein Gräuel sind. 
          Zweifellos 
            sind daran oft die "Bewahrer" traditioneller Werte selber 
            Schuld. Wer seine Normen und Werte unreflektiert aufrecht erhält, 
            ohne sie zu überprüfen, zu hinterfragen und im Diskurs mit 
            anderen zu erneuern, muss sich nicht wundern, wenn sich die Welt an 
            ihnen vorbei weiter entwickelt und die ehemals allgemeingültige 
            Kultur ihre Bedeutung verliert. 
          Ein 
            Beispiel, wie man eine alte Kultur authentisch erneuert und die ihr 
            eigene Besonderheit zurück gewinnen kann, ist "Ritual", 
            nicht zufällig gewählter Titel des neuen Albums der portugiesischen 
            Fado-Sängerin Mísia.
          Noch 
            nie im Verlauf ihrer Karriere hat Mísia den Eindruck erweckt, 
            der Fado als wichtigster Musikstil der portugiesischen Kultur sei 
            etwas, dessen Lebendigkeit man durch bloßes Absingen alter Melodien 
            und Texte erhalten könnte. 
          Im 
            Gegenteil: Mísia hat viel Zeit damit verbracht, den Fado aus 
            unterschiedlichen Perspektiven neu zu entdecken, hat ihm mit Hilfe 
            bedeutender Dichter von Pessoa bis Saramago neue Texte gegeben, den 
            traditionell von Gitarre begleiteten Gesang mit Akkordeon und Klavier 
            zusammengebracht - sich aus allen denkbaren Richtungen in die Seele 
            des Fado hineingedacht, seine Melancholien und Sehnsüchte, sein 
            Begehren, seine Liebesschwüre, die Einsamkeit und Hoffnungen, 
            all das also, was den umfassenden und zentralen Begriff der "Saudade" 
            ausmacht. 
          Mit 
            "Ritual" ist Mísia zum reinen, zum klassischen Fado 
            zurückgekehrt. Die Erfahrungen ihrer vorangegangenen Alben bilden 
            dabei die Grundlage. Sie kennt nun all seine Facetten und Zwischentöne 
            aus eigener Anschauung und Interpretation, und sie greift klassische 
            Vorlagen ihres Idols, der großen Amália Rodrigues auf, 
            der verstorbenen "Königin" des Fado. 
          Fast 
            ausnahmslos lässt sich Mísia auf "Ritual" nur 
            von drei Gitarren begleiten (akustische und portugiesische Gitarre, 
            Bass): die traditionelle Standardbegleitung für den Fado.
          Somit 
            lenkt fast nichts von der makellosen Schönheit ihrer charaktervollen 
            Stimme ab, die ihresgleichen sucht und keinen Vergleich zu scheuen 
            braucht:
          Je 
            nachdem, wie es die Art des Fado und der Text verlangen, klingt Mísia 
            mal sinnlich und sanft, verträumt und verspielt, dann leidenschaftlich 
            und dramatisch, begehrend und kämpfend - fraglos ist es fast 
            unmöglich, sich ihrer Wirkung zu entziehen, die dadurch, dass 
            die Aufnahmen live im Studio ohne zusätzliches Soundmixing entstanden 
            sind, in ihrer Authentizität nur verstärkt werden. 
          Und 
            spätestens bei "À beira da minha rua", bei dem 
            Mísia auf jegliche instrumentale Begleitung verzichtet, sollten 
            Sie alles stehen und liegen lassen und nur dieser Stimme lauschen, 
            die so viele Gefühle gleichzeitig zu transportieren in der Lage 
            ist, wie man es sonst oft nicht einem ganzen Orchester zutrauen würde. 
            
          Das 
            beherrschende Bild des Albums ist der Mond, wiederkehrendes Thema 
            in vielen Liedern. In seinem weißen Licht erstrahlt Mísias 
            Fado zu klarer, reiner Schönheit, sie ihrerseits bildet eine 
            Art Projektionsfläche und gibt die nächtliche Atmosphäre 
            in ihren Liedern stimmungsvoll zurück.
          Selbstbewusst 
            und entschlossen, wie es ihre Art ist, hat Mísia mit "Ritual" 
            mehr als nur eine Hommage an Amália Rodrigues geschaffen. Künftig 
            wird sie mit Fug und Recht als ihre legitime Nachfolgerin gelten. 
            
          Michael 
            Frost / 13.10.2001
            Foto: Augusto Brazio / www.misia-online.com