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Versuch über eine Stadt


Mísia hat sich Zeit gelassen mit diesem Album. Ganze vier Jahre sind seit "Drama Box" verstrichen, ein Album, mit dem sie erstmals versuchte, portugiesischen Fado mit Musikstilen außerhalb der portugiesischen Grenzen zusammen zu bringen. Internationale Kolleginnen wie Ute Lemper und die Schauspielerinnen Fanny Ardant und Carmen Maura unterstützten sie dabei - Glanzpunkt einer ungewöhnlichen Karriere.

Gegen alle Widerstände von Gralshütern und Bedenkenträgern hat Mísia seit Beginn der 90er Jahre das verstaubte, reaktionäre Image des Fado aufpoliert. Die größten Dichter des Landes schrieben für sie, und sie interpretierte ihre Verse mit einzigartiger Hingabe. Behutsam führte sie Geige, Klavier und Akkordeon in ihre Arrangements ein - schon das war vielen Traditionalisten zu viel. Doch Mísia blieb beharrlich, erntete vor allem im Ausland Lob und Anerkennung, und inzwischen liegt ihr längst auch das Heimatland zu Füßen.

Doch vergessen hat sie die Bedeutung ihres internationalen Publikums wohl nicht. Vielleicht feierte ihr neues Album "Ruas" (Straßen) deshalb nicht in Lissabon, sondern in der Hamburger Laeiszhalle Premiere. Doch Hamburg, das mit seinem Hafen als "Tor zur Welt" gilt, ist letztlich nichts anderes als ein deutsches Lissabon: Auch hier handeln die Lieder von Abschied, Sehnsucht, Verlassen und der See.

 Videolink: Mísia "Lisboarium" / Quelle: youtube

Dennoch: Mísia möchte "Ruas" sicherlich sowohl im übertragenen Sinne als auch im direkten Wortsinn verstanden wissen. Einmal lässt sie ihre Wege vergangenen Jahre Revue passieren, andererseits zeichnet sie die Straßen ihrer Stadt nach: "Lisboa" bleibt Dreh- und Angelpunkt ihrer Sehnsucht, und wohl selten in der zeitgenössischen Musik wurde wohl eine Stadt so berührend und zärtlich besungen wie eben "Lisboa" auf diesem Album, das übrigens den Untertitel "Lisboarium" trägt, eine Zusammensetzung aus Lisboa und Laboratorium: ein musikalischer Versuch über eine Stadt. Mit dem Namen der Stadt beginnt "Ruas" ("Que fazes ai Lisboa"), und mit eben diesem Namen endet es auch: "Cançao de Lisboa".

So erscheint "Ruas" zunächst als durchaus klassisches Fado-Album, doch Mísia wäre eine andere, wenn sie sich nicht hier und dort ein paar Freiheiten genehmigt hätte: "Joana Rosa" etwa erzählt vom Heimweh einer nach Lissabon (sic!) ausgewanderten Frau von den Kapverdischen Inseln, und Mísia verknüpft ihre Geschichte geschickt mit dem so typischen, durch Cesaria Evora zu Weltruhm gelangten Rhythmus der Atlantikinseln.

Mit "Fado inventaire" dann singt sie dann erneut einen Fado in französischer Sprache, vom Akkordeon untermalt. Gleiches hatte sie schon auf einem früheren Album getan. Doch diesmal scheint sie ihre Interpretation ironisch brechen zu wollen, indem sie dem Lied das aufgekratzte Intermezzo "Lisboa, nao sejas francesas" folgen lässt: "Lissabon, gib dich nicht Französisch", heißt es darin, "du bist Portugiesisch, du gehörst nur uns."

Mísia selbst ist wohl Ausdruck der Zerrissenheit, die in dem Stück zum Ausdruck kommt: Seit einigen Jahren lebt sie in Paris - wodurch ihre Sehnsucht nach Lissabon nur größer, und ihr dieses Album vielleicht überhaupt erst möglich wurde.

Andererseits strebt sie auch nach anderen Gefilden, ausgedrückt durch den zweiten Teil dieser Veröffentlichung, den sie "Tourists" nennt und der an verschiedene Orte führt, an denen sie sich im Verlauf ihrer Karriere aufhielt.

Es war eine kluge Entscheidung, dieses Album nicht als Solitär, sondern quasi als Bonus-CD mit "Ruas" zu veröffentlichen (auch wenn Mísia beide CDs gleichberechtigt nebeneinander verstanden wissen möchte), denn hier verhebt sie sich: Angloamerikanische Pop/Rock-Klassiker wie "Hurt" und "Love will tear us apart" klingen aus ihrem Mund allzu dramatisch, laut und angestrengt, und auch die dröhnenden E-Gitarre wollen nicht wirklich zu der kunstvollen Aura passen, die Mísia auch hier umgibt, zumal ihr die übrigen Titel durchaus gelingen, mehr noch - ihr vielleicht einen neuen Weg eröffnen, ihr Repertoire zu erweitern:

"Biraz kül biraz duman", ein türkisches, sehr meditatives Intro, das anrührende italienische Liebeslied "Mi sono innamorata di te" und "Era di Maggio" auf Neapolitanisch, im Duett mit Pepe Servillo, dem Sänger der San Remo-Gewinner Avion Travel. Höhepunkt dieses zweiten Teils ist zweifelsohne "Como el agua", ein spanisches Lied, bei dem Mísia erkennen lässt, dass sie auch eine grandiose Flamenco-Interpretin sein könnte.

Letztlich, sagt Mísia, seien all diese Stücke - und sie bezieht die englischen durchaus mit ein - in all der Verletzung, Sehnsucht und Leidenschaft, die in ihnen zum Ausdruck komme, auch nichts anderes als Fado - nur eben mit anderem kulturellen Hintergrund.

So ist man schlussendlich, trotz der irritierenden Rocksongs, am Ende wieder versöhnt und voller Anerkennung für den mutigen Versuch, die Grenzen des 'eigenen' Genres zu sprengen.

© Michael Frost, 02.04.2009

 


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