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Ein zweites Zuhause

 

Die Faszination beruht auf Gegenseitigkeit. Hier die französische Kultur, sinnbildlich für Freiheit, Offenheit, Weltläufigkeit und Erotik, dort Japan mit dem ungeheuren Spannungsverhältnis einer lange isolierten Hochkultur und der scheinbar grenzenlosen Experimentierlust der jungen Generation auf der Suche nach eigenen, zeitgemäßen Ausdrucksformen abseits des angloamerikanischen Mainstream.

Das gegenseitige Interesse der Musikszene beider Länder ist nicht neu: Das Pariser Punkpop-Duo "Les Rita Mitsouko" verwies bereits im Bandnamen auf japanische Stilmittel, umgekehrt besangen die legendären Pizzicato Five in einem ihrer berühmtesten Hits die japanische Hauptstadt auf Französisch: "Tokyo mon amour".

Gerade die Pizzicato Five gelten heute als prominenteste Vertreter des "Shibuya-kei", einer Musikrichtung, die in Japan in den 1990er Jahren populär wurde und sich musikalisch einer Mischung aus Pop, Jazz und Elektro bediente. Vor allem auch Einflüsse aus Bossanova, Chanson und Cool Jazz der 50er und 60er Jahre wurden aufgegriffen und visuell mit der Optik dieser Zeit verknüpft.

Die Zusammenarbeit der französischen Multi-Künstlerin Sublime und des japanischen Multi-Musikers Jun Miyake darf man also getrost als aktuelles Beispiel dieser besonderen französisch-japanischen Faszination betrachten, und in diesem Fall ist der künstlerische Austausch besonders eng: Beide Künstler beschäftigen sich nicht nur mit der jeweils anderen Szene, sondern leben auch in beiden Welten. Sublime arbeitet immer wieder in Tokio, während Jun Miyake in Paris Quartier bezog.

Die Idee für "Ludic'" entstand bereits im Jahr 2002. Ursprünglich hatte Sublime ein Soloalbum geplant, das Miyake produzieren sollte. Miyake hatte sich damals vor allem einen Namen im Zusammenhang mit der Wiederentdeckung der Bossanova gemacht. "Innocent Bossa in the mirror" erschien im selben Jahr als Ergebnis seiner Kooperation mit Arto Lindsay und Vinicius Cantuaria. Frankreich erschien erst anschließend auf seiner musikalischen Landkarte, vielleicht auch in Folge der gemeinsamen Pläne mit Sublime.

"Stolen from strangers", von dieser Redaktion und von Magazin "Jazz Thing" zum Album des Jahres 2008 gekürt und darüber hinaus u.a. mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet, war bereits ein Vorgeschmack der leidenschaftlichen Auseinandersetzung Miyakes mit der Pariser Jazz- und Chanson-Szene. Unter anderem Shooting-Star Artur H. war mit von der Partie, außerdem die Wahl-Pariserin Lisa Papineau.

Es ist vielleicht ein wenig ungerecht, aber unvermeidlich, "Ludic'" nicht als Album von Sublime, sondern im Kontext zu "Stolen from strangers" zu betrachten. Denn die Handschrift Miyakes ist allgegenwärtig, und sie bezieht sich immer wieder auf das vorige Album - am deutlichsten freilich am Ende des Albums, wenn Sublime "Je trace" singt. Der Text stammt von ihr, doch die Komposition war bereits auf "Stolen from strangers" zu hören, damals als "Le mec dans le train" mit den Worten und der Stimme von Sanseverino.

Sublime (ihr Künstlername ist übrigens ihr richtiger Nachname) ist allerdings souverän und charismatisch genug, um nicht nur diesem Lied ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Es ist ein wahrer Parforce-Ritt, den Miyakes Kompositionen ihr auferlegen, und sie bewältigt ihn mit Bravour - vom "film noir"-inspirierten "Minérale" über den Samba-Rhythmus von "Mêm' pas peur", die charmante Eleganz von "Permettez please" oder "Au clair de lune", das 60er Chanson "Chinchilla", die Electro-Fusion von Tango und Bossanova des Titelsongs, den tango cancion ("Féria, "Thriller latina") - bis zu "Chiquito", der einzigen Eigenkomposition Sublimes, in der ihre Stimme - übrigens eingebettet in donnernden Gypsy Brass - der schillernden Cathérine Ringer (Sängerin von Les Rita Mitsouko) gefährlich nahe kommt.

Der Abwechslungsreichtum der Sounds ist für Jun Miyake absolut typisch, und er ist eben auch kennzeichnend für die Schmelztiegel der musikalischen Szenen von Paris und Tokio, die sich hier mit einer fröhlichen Selbstverständlichkeit vereinigen, als spielten zeitliche, geografische oder kulturelle Grenzen überhaupt keine Rolle mehr.

Wem die flirrende Vielzahl der Klänge zu verwirrend erscheint, der widme sich einfach mit "Chat soupir", einem höchst ungewöhnlichen Duett zwischen Sublimes Stimme und Miyakes Flügelhorn, die sich im Verlauf des Stückes immer ähnlicher zu werden scheinen.

Oder: "Tokyo je t'aime", gewissermaßen als Fortführung des Pizzicato Five-Titels, Sublimes abschließende Liebeserklärung an die japanische Hauptstadt, die hier einmal nicht aus der "Lost in translation"-Perspektive beleuchtet wird - sondern aus der Innensicht einer Französin, die in Japan aller Unterschiede zum Trotz ein zweites Zuhause gefunden hat. Dass ausgerechnet dieses Lied als sehr französisch arrangiertes Chanson mit Geige, Klavier, Harfe und samtweich gehauchtem Sprechgesang arrangiert wird, darf wiederum als Miyakes Liebeserklärung an Paris verstanden werden - auch er fand ein neues Zuhause.

 

© Michael Frost, 26.03.2010


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