Die
Begegnung ist ungewöhnlich: Ein klassischer Flötist und
ein Jazz-Pianist treffen sich zu einem gemeinsamen Projekt. Jacky
Terrasson und Emmanuel Pahud sind Größen auf ihrem Gebiet.
Terrasson, der Jazzpianist und -komponist französisch-amerikanischer
Abstammung, hat inzwischen sechs Soloalben eingespielt, darunter "Rendezvous"
(1997) mit Cassandra Wilson und "A Paris" (2001), das mit
neu arrangierten französischen Chansons monatelang die europäischen
Jazz-Charts dominierte. Sein Album "Smile" aus dem vergangenen
Jahr wurde in Frankreich mit dem "Victoire du Jazz 2003"
als bestes Jazz-Album des Jahres ausgezeichnet. Emmanuel Pahud, heute
in den Dreißigern, war bereits Anfang 20 Soloflötist bei
den Berliner und den Münchner Philharmonikern. Er spielt mit
Dirigenten wie Rostropowitsch, Abbado und Schiff zusammen. Mit den
Berliner Philharmonikern und Claudio Abbado hat er gerade Flötenkonzerte
von Mozart eingespielt.
Die
beiden Künstler haben sich in Südfrankreich zu einer Session
getroffen, in der sie ihre Virtuosität feiern ohne sich gegenseitig
auszustechen. Ihr gemeinsames Album nennen sie "into the BLUE".
Darin verwandeln sie die Werbe-Ohrwürmer, die Zugaben-Highlights
des Klassikbetriebs in wundersam leichte Improvisationen. Wer zuerst
die Titelliste liest, wird - sowohl als Klassik- wie als Jazzfan -
enttäuscht sein, weil hier tatsächlich die tausendfach gehörten
Nummern auftauchen, wer aber zuerst die CD hört, wird begeistert
sein.
Denn
diese Hits, die in allen möglichen verflachten, verkitschten,
verpoppten, verrockten Variationen unendlich häufig in allen
Medien auftauchen, die längst zum Kaufhausgesäusel herabgesunken
sind, erscheinen hier so fremd, dass man sie irgendwann schon mal
gehört zu haben glaubt, aber doch irritiert ist und den Zusammenhang
erst entschlüsseln muss.
14
prominente Stücke, darunter viermal Vivaldi, je ein Satz aus
den Vier Jahreszeiten: Wie die beiden Künstler mit ihrem verschlissenen
Material umgehen, das ist deshalb sensationell, weil es so ergreifend
einfach ist: Emmanuel Pahud - mit deutlich klassischem Ansatz in der
Intonation, dabei wunderbar weich - legt die Grundmuster der Vivaldi-Melodien
in den jeweils kaum 2minütigen Stücken frei, als wären
sie weit entfernte Zitate, die aus ihrem klassischem Korsett gebrochen
und neu beatmet werden:
Das
geschieht leicht und locker, vieldeutig rhythmisch verfremdet, das
klingt gelegentlich wie hingehaucht und hingetupft, und der Arrangeur
Jacky Terrasson unterstreicht am Piano ausgesprochen zurückhaltend
diesen Duft der Leichtigkeit. Dabei spielen Pahud und Terrasson keineswegs
gegen den ursprünglichen Charakter der Musik an, im Gegenteil:
Der kurze Satz aus Vivaldis Sommerstück etwa behält seinen
wild gewitternden Gestus nicht nur, er wird in der Improvisation noch
hervorgehoben. Und Ravels "Bolero" - obwohl unvermeidlich
fast sofort im Ohr - wird durch die raffinierte Kreuzung von Cha Cha-Rhythmen
(Piano) und Cool Jazz-Linien (Flöte) zu einem neuen Hörerlebnis.
Die
beiden Solisten werden dezent und elegant begleitet von Ali Jackson
(drums) und Sean Smith (Kontrabass). Ursprünglich wollten Pahud
und Terrasson sich ganz auf französische Komponisten der vorletzten
Jahrhundertwende konzentrieren, Stücke von Saint-Saens, Ravel,
Faure und Debussy machen den Schwerpunkt des Albums aus.
Vor
allem in diesen Arrangements erreichen die beiden Virtuosen eine einzigartige
Leichtigkeit, eine Wärme und Feinheit, dass man sich wünscht,
sie wären bei diesem Programm französischer Impressionisten
geblieben. Aber sie verlängern ihre musikalische Reise um jene
berühmten "Zugaben-Knaller", ohne die kein Virtuose
aus dem Konzertsaal entlassen wird. Auch wenn Mozarts "Rondo
a la turque" witzig als ganz entspannte Reggae-Nummer gegeben
wird, Schumanns "Von fernen Ländern" nach Kuba und
Kolumbien klingt oder bei Rimsky-Korsakovs "Hummelflug"
der Geschwindigkeitsrekord gebrochen wird, diese Virtuosenstückchen
bleiben auch hier, was sie sind: Zugaben.
Das
ändert nichts daran, dass Emmanuel Pahud und Jacky Terrasson
mit ihrer Begegnung zwischen Klassik und Jazz Grenzen überschreiten,
weil sie ihre jeweilige Herkunft und ihre unbestritten große
Virtuosität nicht verleugnen und dennoch wahrhaft inspirierend
miteinander musizieren.
Dabei
entsteht zwischen ihnen etwas Besonderes: Eine erfrischend lebendige
Musik - die jenseits der ausgetretenen Pfade der "Classic meets
Jazz"-Abteilung - ausgerechnet mit dem allerbekanntesten Material
wirklich Neues erzählt. Das macht das Album "Into the blue"
zu einer Entdeckung.
©
Hans Happel, 26. April 2003