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Band mit
mehreren Leben

Der vernichtende Kommentar ließ nicht lange auf sich warten. "I wanted to forget about it", wird Thom Yorke angesichts der Nachricht zitiert, seine ehemalige Plattenfirma plane die Veröffentlichung eines "Best of Radiohead"-Albums. "We haven't really had any hits so what exactly is the purpose?", wird er in den Online-News auf intro.de zitiert - doch ganz so einfach ist die Angelegenheit dann doch nicht.

"Hits" ist selbstverständlich nicht unbedingt der Begriff, den man bei Radiohead verwenden würde. Andererseits: "Paranoid Android", einer der wichtigsten Meilensteine der Bandgeschichte, war in den TOP 3 der britischen Charts, "Street spirit (Fade out") schaffte es immerhin auf Platz 5 und "Creep" war 1993 einer der Überraschungshits des Jahres, an dem die Band fast zerbrochen wäre. Weiterhin: Die schlichte Schönheit von "No surprises" ist ebenso unübertroffen wie der atemlose Rhythmus von "There there" - und so könnte man nahezu alle Songs dieser Über-Band hervorheben - der Charterfolg wäre dabei insgesamt nicht mehr als eine Fußnote.

Denn Radiohead bleiben vor allem eine Album-Band, die mit "OK Computer" und "Kid A" Musikgeschichte schrieb. Vor allem "Kid A" war so konzipiert worden, dass man nur schwerlich einzelne Songs aus dem überwältigenden Gesamtkonstrukt des Albums herausbrechen konnte. Der Beginn mit "Everything in its right place", "Kid A", "The National Anthem" und "How to disappear completely" ist ein überwältigender Einstieg, in dem die Band ihr Verständnis zeitgemäßer Rockmusik entwirft und dabei eine Atmosphäre aufbaut, die das gängige 3-4-Minuten-Song-Schema überwindet.

Hierin liegt dann auch das Hauptproblem dieser "Best of"-Veröffentlichung. Es erscheint in zwei Versionen (als einfache CD mit 16 und als Doppelalbum mit 29 Titeln), was schon darauf hindeutet, dass eine wirkliche Bestimmung der "besten" Radiohead-Songs nahezu unmöglich ist. Zudem entschied man sich dafür, die Stücke nicht in chronologischer Reihenfolge, also nach Veröffentlichungsdatum und Albumzugehörigkeit aufzureihen, was die Nachvollziehbarkeit des musikalische Reifeprozesses von Thom Yorke, Jonny und Colin Greenwood, Ed O'Brian, Phil Selway und Produzent Nigel Godrich sicher deutlich erhöht hätte. Die Entwicklung der Band ist nämlich enorm: Zwischen "Creep" (1992) und "Kid A"-Stücken wie "Idiotique" oder "Pyramide Song" (2000) liegen weit mehr als nur acht Jahre - Radiohead ähneln insgesamt mehr einer Katze mit mehreren Leben.

Immerhin erhöht es den Abwechslungsreichtum dieser Zusammenstellung, die jeweiligen Ergebnisse der jeweiligen Band-Leben wild durcheinander gewürfelt wiederzuentdecken, und doch bleibt die Erkenntnis, dass viele der Stücke, ihrer originären Album-Umgebung beraubt, ihre wahre Größe hier nicht preis geben wollen. Zum Beispiel: "Everything in its right place", einst bahnbrechender Opener zu "Kid A", wirkt hier, ohne erkennbaren Zusammenhang im Anschluss an "Street spirit (Fade out") ans Ende gestellt, seltsam deplatziert.

Deshalb kann die "Best of"-Zusammenstellung allenfalls ein Appetitmacher für Neu-Interessierte sein. Denen sei deshalb eher die DVD-Version empfohlen: Im Unterschied zur überraschungsarmen CD sind hier neun der 21 Videoclips erstmals auf DVD zu sehen. Überhaupt ist es das erste Mal, das die meisterhaft inszenierten Radiohead-Videoclips zusammengefasst veröffentlicht werden. Versierten Clipregisseuren wie Chris Hopewell, Jonathan Glazer und Michel Gondry gelingt es phänomenal, die assoziativen Musikstücke in nicht minder phantastische Bilder zu kleiden - einzigartig in ihrem ästhetischen Zusammenspiel von Musik und Bildsprache.

Wer Radiohead jedoch überhaupt erst noch entdecken will, der fährt womöglich mit der bereits im vergangenen Jahr erschienenen CD-Box besser, die sämtliche Alben von "Pablo Honey" (1993) bis "Hail to the Thief (2003) sowie das Live-Album "I might be wrong" (2001) beinhaltet - das komplette Repertoire, das Radiohead bei ihrer langjährigen Plattenfirma Parlophone/EMI herausgaben. Mehr umfasst die Best-of-Sammlung übrigens auch nicht: Titel ihres aktuellen Albums "In rainbows", das Radiohead unter großem Medienecho zunächst als Internet-Download anboten und später mit neuer Plattenfirma veröffentlichten, fehlen gänzlich.

Vergessen, wie das Zitat Thom Yorks eingangs nahe legte, sollte man diesen Abschnitt, den man später vielleicht als "The EMI years" bezeichnen wird, keinesfalls. "Radiohead sind in dieser Zeit", so der Pressetext zum Best-of-Album, "erst flügge, dann groß und schließlich gigantisch geworden." Das klingt immerhin nach einem versöhnlichen Ende einer Beziehung, die uns immerhin die größte Rockband der Gegenwart beschert hat.

© Michael Frost, 18.05.2008

 


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