Edgar 
                    Allen Poe (1809 - 1849) ist für Lou Reed "der klassischte 
                    aller amerikanischen Autoren, der viel mehr mit dem Herzschlag 
                    unseres neuen Jahrhunderts verbunden ist als mit dem seiner 
                    eigenen Zeit." Lou Reeds neue CD heißt nach Poes 
                    berühmtestem Gedicht "The Raven", das Album 
                    ist der ungewöhnliche und hörenswerte Versuch, eine 
                    Theater-Performance in eine Audioversion zu übersetzen.
                    
                    Lou Reed hat im Zuge seiner langjährigen Zusammenarbeit 
                    mit dem Theatermagier Robert Wilson zuletzt Musik und Texte 
                    für das Bühnenstück POEtry geschrieben, das 
                    im Februar 2000 am Hamburger Thalia-Theater uraufgeführt 
                    wurde. Mit vielen illustren Gästen hat er daraus in den 
                    USA eine eigenwillige Mixtur aus Poe-Originaltext und Poe-Paraphrasen 
                    gemacht, das er in ein musikalisches Patchwork-Gewand eintaucht, 
                    in dem Avantgarde, Jazz, Rock, Gospel, und Streichmusik zu 
                    einem dichten Klangbild gebunden werden, das dennoch immer 
                    transparent und klar bleibt. 
                  Reed 
                    hat kürzlich im Interview darauf hingewiesen, dass er 
                    kein Poe-Experte sei und auch keiner werden wolle. So hat 
                    sein Werk nichts mit dem analytischen Blick des Wissenschaftlers 
                    zu tun. Im Begleittext zur CD schreibt er: "Ich habe 
                    immer wieder Poe gelesen und umgeschrieben, um die immer wieder 
                    gleichen Fragen zu stellen: Wer bin ich ? Was treibt mich, 
                    das zu tun, was ich nicht sollte ? Warum lieben wir das, was 
                    wir nicht erreichen können ?" Poe ist für Reed 
                    der Dichter der "Obsessionen, Paranoia, der Akte willentlicher 
                    Selbstzerstörung." 
                  Aber 
                    nicht nur das: Lou Reeds kleines Gesamtkunstwerk "The 
                    Raven" zeigt vor allem Poes andere Seite: Die Schönheit 
                    und die Form. Wenn der Schauspieler Willem Dafoe "The 
                    Raven" rezitiert, dann wird die Wortmusik dieser Ballade 
                    um Tod und überirdische Liebe mit unglaublicher Eleganz 
                    hervorgehoben und damit Poes Nähe zur Musik auf betörend 
                    schöne Weise hörbar gemacht. 
                    
                    "The Raven" - mit einem an Philipp Glass orientierten 
                    musikalischen Unterboden - ist Mittel- und Höhepunkt 
                    dieser Poe-Hommage, die nach einem etwas spröden Auftakt 
                    immer dichter und intensiver wird. Neben Willem Dafoe sprechen 
                    Elizabeth Ashley und Amanda Plummer, neben Lou Reed singen 
                    Laurie Anderson, David Bowie, Antony und Steve Buscemi (letzterer 
                    in "Broadway Song" kaum weniger swingend als der 
                    gefeierte Robin Williams). 
                  Am 
                    stärksten überzeugen Lou Reeds leisere Lieder. Hier 
                    kommt seine ewig junge, verführerisch zweideutige Stimme 
                    besser zur Geltung als in den lauten, zwar schön geradeaus 
                    gespielten, aber allzu gespresst gesungenen Rock-Nummern (Band: 
                    Mike Rathke - guitar, Fernando Saunders - bass, Tony Smith 
                    - drums, als Gäste u. a.: Friedrich Paravicini - keyboards, 
                    Steven Bernstein - trumpet, horn arrangement, Frank Wulff 
                    - eboe). 
                  Ein 
                    Glanzstück unter den 18 - häufig kurzen - Musiktiteln 
                    ist "Vanishing Act": Eingeleitet mit wenigen Pianotönen 
                    singt Lou Reed ganz leicht, leise und trocken vom Abtreten 
                    von dieser Erde, "it must be nice to disappear", 
                    und er spielt an auf Poes unsterbliche Liebe zu seiner früh 
                    gestorbenen Kusine Virginia, die er als 13-jährige geheiratet 
                    hatte. 
                  Musikalische 
                    Wechselbäder folgen danach: "Guilty" wird dominiert 
                    von den kühl-verspielten Läufen der 72-jährigen 
                    Free-Jazz-Legende Ornette Coleman, "I wanna know", 
                    eine Paraphrase auf Poes Erzählung "Grube und Pendel", 
                    lebt dagegen von den heißen Gospelstimmen und -rhythmen 
                    der "Blind Boys of Alabama". "Who I am?" 
                    fragt Lou Reed fast zum Schluß. Ein Blick in den Spiegel, 
                    der die Furchen im Gesicht nicht verbirgt. 
                  Aber 
                    damit gibt er sich der Rock-Lyriker, der am 2. März 60 
                    Jahre alt wird, nicht zufrieden. Sein Schlusslied heißt 
                    "Guardian Angel", es ist wirklich ein Kinderlied, 
                    ein Wiegenlied, eingängig, schlicht, aber nicht einfältig, 
                    singt Reed von dem Schutzengel, der immer dann erscheint, 
                    wenn die Gefühle sich verirren wollen, wenn die Alpträume 
                    kommen, wenn Einsamkeit und Angst überhand nehmen. 
                  Das 
                    ist so locker und leicht, so schläfrig und sanft gesungen, 
                    dass bei aller Ironie, die Lou Reed zwischen den Zeilen spüren 
                    läßt, etwas Wahres zurückbleibt: Die Sehnsucht, 
                    nicht von der Dunkelheit, von der Edgar Allen Poe erzählt, 
                    zerstört zu werden.