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Im Einklang
mit der Natur


Die Idee wuchs über mehrere Jahre, doch im Sommer 2006 schien die Zeit reif. Sigur Rós und ihre Begleiterinnen, das Streicherquartett Amiina, waren von einer Welttournee, die sie zuletzt bis in den Fernen Osten führte, nach Island heimgekehrt. Zu Hause wollten sie verlorene Energien tanken, sich von den Strapazen der langen Reisen erholen, sich "zu erden", wie man sagt - nach der Zeit der künstlichen Welt der Plattenfirmen, der Interviews und TV-Auftritte.

Es ist viel geschrieben worden über den Zusammenhang der Musik von Sigur Rós mit der Landschaft, aus der die Gruppe stammt. Island, abseits im Nordmeer mit ihrer zerklüfteten, weithin baumlosen Welt aus Lavagestein und Eis gelegen, ist ein einsamer Ort. Die Hauptstadt ist kaum so groß wie Bremerhaven, die wenigen Menschen leben in winzigen Orten entlang der Küste, das Binnenland ist fast menschenleer und wenig einladend: selbst im Sommer tragen die Bewohner häufig dicke Pullover aus Schurwolle.

Schroff, unwirtlich, unzugänglich, so präsentieren sich auch Sigur Rós, namentlich Jón þor (Jónsi) Birgisson, Kjartan Sveinsson, Orri Páll Dýrason und Georg Holm. Seine E-Gitarre streicht Jónsi mit dem Geigenbogen, dadurch klingt sie rau und fremdartig, wie auch seine Stimme: meist in einer Art Falsett, in einer selbst erfundenen Kunstsprache gesungen ("Hopelandish") - oder auf Isländisch, was die Sache auch nicht verständlicher macht, bleibt er geheimsvoll und unergründlich.

Und dennoch ist die Musik von einer lautmalerischen Schönheit, die ihresgleichen sucht. Aus ihr spricht die majestätische Erhabenheit der Landschaft, der weite Blick über das Meer, das mal berauschend im Sonnenlicht glitzert, mal mit tosender Gischt gegen die Klippen prallt, man erkennt in ihr die sanft geschwungenen Hügel, die eruptive Energie der Vulkane oder auch die klirrende Kälte der Gletscher und der Bäche aus Schmelzwasser.

In diese Welt kehrten Sigur Rós im Sommer 2006 zurück. An verschiedenen Stellen Islands bauten sie ihre Bühne auf - oder einfach nur ihre Instrumente, um für die Bewohner der jeweiligen Dörfer - oder nur für sich allein, zu spielen. So entstanden die wohl berührendsten Aufnahmen der Band überhaupt. Die Musik von Sigur Rós erklingt, aufgeführt an den Orten, die sie beschreibt, als deren Vertonung, als Resonanzkörper der Natur, und wird dadurch eins mit ihr.

Sie spielten für die Bewohner des Camps von Snaefall und unterstützten damit deren Protest gegen die Flutung des Tals für ein gewaltiges Staudammprojekt. In Seyðisfjörður, im äußersten Osten der Insel, traten sie vor dem Kirchportal auf. Während des Konzertes zog starker Nebel auf und schuf eine Kulisse, die kein Bühnenbildner je hätte stimmiger designen können. In Ísafjörður holten sie unter dem Jubel der Einwohner den örtlichen Spielmannszug zu einem blechernen Intermezzo mit auf die Bühne. In Ásbyrgi spielten sie in der Abendsonne unter einem Himmel, der zu brennen schien und in Öxnadalur inmitten sattgrüner Hügel, umgeben von Schafen und einer großen Menschenschar, die sich an offenen Feuern erwärmte. Schließlich sieht man Sigur Rós auf einer Familienfeier, wo sie einen Interpreten alter isländischer Folklore auf der Bühne begleiteten.

Bewusst hatte die Band ihre Tour nicht angekündigt. Alle Auftritte wurden kurzfristig bekannt gegeben, fanden überwiegend unter freiem Himmel und ohne Eintritt statt. So kamen fast ausschließlich Einheimische zu den Konzerten, meist, wie die Geigerinnen von Amiina stolz vermerkten, ganze Familien: Opa und Oma, Jugendliche, Eltern mit Kindern aller Altersgruppen.

Anders war es nur in Reykjavik. Mit 25.000 Zuschauern wurde es das größte Konzert in der Geschichte Islands und für die Band wohl der Höhepunkt ihrer Karriere. Gleichzeitig bedeutete die Tournee das Ende der langjährigen Zusammenarbeit zwischen der Gruppe und den vier jungen Streicherinnen, die zunächst als Begleitmusikerinnen im Studio und bei Konzerten an der Seite von Sigur Rós zu sehen waren, sich jedoch bald selbst als Band formierten und als "Amiina" eine eigene Karriere starteten (jüngst erschien ihr erstes Album "Kurr").

"Heima", das faszinierende Dokument der außergewöhnlichen Reise von Sigur Rós durch Island, belegt vielleicht letztmalig, wie stark die Symbiose beider Gruppen wirkte. Am beeindruckendsten vielleicht im Alten Gemeinschaftshaus der 100-Seelen-Gemeinde Borg. Sigur Rós spielten dort mit Amiina "Vón", Titelstück ihres ersten Albums. "Heima" zeigt den Auftritt und seine Wirkung auf die Zuhörer, die dem eigentümlichen Zauber des Gesangs, den beschwörenden Klängen des Streichquartetts und dem hypnotischen Rhythmus der Pauke erliegen und den Moment in stiller Andacht genießen. Ihren Gesichtern ist die Rührung anzusehen.

So anmutig ist der Klang, so elegisch, so traurig und feierlich zugleich, und trotzdem voller Hoffnung. "Zum Sterben schön" ist man versucht zu sagen - schade nur, dass man "Vón" dann nicht mehr hören kann, deshalb lieber: Zu schön um zu sterben.

© Michael Frost, 11.11.2007

"Heima" wurde in zwei Ausführungen veröffentlicht. Die ‚einfache' Version besteht aus zwei DVDs: eine hat dokumentarischen Charakter und enthält zahlreiche Szenen abseits der Auftritte sowie Interviews mit den Mitgliedern von Sigur Rós und Amiina. Die zweite Disc zeigt dann die Live-Performance von sechzehn Songs an unterschiedlichen Auftrittsorten der Tour. Die limitierte Ausgabe beinhaltet außerdem ein 100 Seiten starkes, gebundenes Fotoalbum.

Zusätzlich veröffentlichten Sigur Rós die Doppel-CD "Hvarf-Heim" mit Audioaufnahmen von der Tour. Im Begleittext weisen Sigur Rós darauf hin, dass alle Aufnahmen nachträglich nicht mit Overdubs bearbeitet wurden. Die Soundqualität ist dennoch exzellent - und alles andere erst recht.


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