Kritiker
werfen Simply Red gelegentlich vor, zu glatt, zu gefällig, zu
gradlinig zu sein. Im Widerstreit von Soul und Pop gewinnt bei Mick
Hucknell und seinen Musikern stets der Pop die Oberhand, und manchmal
ist das Ergebnis von nur geringer Halbwertzeit. Und dennoch ist Simply
Red eine der erfolgreichsten britischen Bands überhaupt, die
über ein gewaltiges Repertoire an Hits verfügt, die selbst
von denen mitgesungen werden können, denen die Band ansonsten
nicht besonders nahe ist.
Jüngst
versuchten sie sich mit einer Neueinspielung ihrer alten Hits (...),
was Hardcore-Fans gefreut haben dürfte. Weitaus neugieriger durfte
man jedoch auf eine parallel veröffentlichte DVD sein: "Cuba!".
Darauf ist nämlich der Mitschnitt eines Konzerts zu sehen, das
Simply Red in diesem Jahr im "Gran Teatro" von Havanna gaben.
Spannende Frage vor dem Einlegen der DVD: Wie funktioniert der perfektionistische,
manchmal fast sterile Schmusepop der Briten in der Karibik, die immerhin
als Heimat so temperamentvoller Rhythmen wie Calypso, Merengue, Salsa,
Reggae, Son usw. gilt?
Mick
Hucknell begegnet der Erwartung zunächst mit einer Überraschung.
Betont leise und sentimental ist sein Einstieg mit "A song for
you", die Eröffnung eines klassischen Entertainers in Sinatra-Pose,
und über die gesamte erste Hälfte des Konzerts ziehen sich
gefühlvolle Balladen, bei denen - endlich - der Pop in den Hintergrund
tritt, klassisches Songwriting, Soul und Jazz die Oberhand gewinnen
und abseits des Mainstreams die energievolle Musikalität von
Simply Red in den Vordergrund stellen. Hucknell selbst scheint von
der Szenerie wie beflügelt: das ehrwürdige Ambiente des
Gran Teatro, einem opulenten Kolonialbau, dient ihm an diesem Abend
für eine nahezu perfekte (sic!) Symbiose von Musik und Raum,
Publikum und Bühnenshow.
Denn
im zweiten Teil des Konzerts bekommt das Publikum die heiß ersehnte
Gelegenheit, sich von den Plätzen zu erheben, und zu Songs wie
"The right thing", "Come to my aid", "Fairground"
und "Something got me started" sieht man die Zuschauer Salsa
tanzen. Sie folgen darin dem Tanztheater-Ensemble, das Simply Reds
Bühnenshow unterstützt. Und auch der musikalische Zuwachs
(ein Streicher-Oktett und eine zusätzliche Bläsersektion
vervielfachen den Sound) tut ein Übriges für die großartige
Stimmung des Konzerts.
So
ist auch der kritischste Rezensent am Ende dieses Konzerts mit Simply
Red versöhnt. Man mag der Band ihren Hang zum Seichten vorwerfen,
aber dass sie auch anders können, haben sie in Havanna bewiesen.
So bleibt die Hoffnung, sie könnten es öfter tun.
©
Michael Frost, 15. November 2005