Sie
ist eine Predigerin, ihr Charisma strahlt wie vor 30 Jahren,
als sie zusammen mit dem Rock-Poeten Lanny Kaye an der Gitarre
und dem Pianisten Richard Sohl in New York ihre erste Platte
aufnahm. Die legendäre Single "Piss Factory"
war ein mehr gesprochenes als gesungenes Poem, in dem sie
von dem jungen Mädchen erzählt, das die Fabrik in
der Kleinstadt verlässt und sich nach New York aufmacht,
um zum Star zu werden.
Der
mantrahafte, erregende Sprechgesang von außerordentlicher
Kraft wird zu ihrem Markenzeichen. Was sie singt, ist immer
beglaubigt durch die Persönlichkeit der Sängerin.
Patti Smith heißt die Frau, die 1974 als rebellische
Dichterin und Erneuerin authentischerRockmusik auftrat. "Es
ist die Rock&Roll-Regel, dass irgendwo irgendeiner nackt
dastehen muß", zitiert Victor Bockris sie in seiner
Patti-Smith-Biografie.
Wie
sie sich vor drei Jahrzehnten verausgabt und entblößt
hat, so tritt sie noch heute auf. Das neue Album von Patti
Smith heißt "trampin´", und darin ist
die 58-jährige Predigerin so energisch, so direkt, so
leidenschaftlich wie eh und je. Auf dem Schwarz-Weiß-Cover
sind ihre nackten Füße zu sehen, die einen schlammigen
Boden berühren.
Nein,
Patti Smith sackt nicht ein, sie versinkt nicht im Schlamm,
sie geht ihren Weg und das ist das Thema ihrer Musik. Da mögen
manche Lieder in Text und Musik weichgespült klingen
- und die "Löwen und Lämmer" im lieblichen
Friedenstraum des PEACEABLE KINGDOM bestens miteinander auskommen
-, es überwiegen die starken Töne, die kräftigen
Klänge, und der suggestive minimalistische, vom Flüstern
zum Schluchzen und Schreien sich steigernde Sprechgesang,
mit dem Patti Smith politische und persönliche Botschaften
unters Volk streut.
Hatte
sie als junge Dichterin Rimbaud für sich entdeckt, so
hält sie es hier mit dem Dichter-Maler William Blake
und spricht in einem düsteren Song von MY BLAKEAN YEAR.
Sie bewundert den zeitlebens Verkannten, der an seinen Visionen
festhielt und erlebt ihn als Spiegel ihrer eigenen Schwierigkeiten.
Das erfährt man auf ihrer Webseite, die auch einige Texte
des neuen Albums zugänglich macht (aber leider nicht
alle).
ONE
ROAD IS PAVED IN GOLD/ ONE ROAD IS JUST A ROAD singt sie in
MY BLAKEAN YEAR. Und ihr Blick auf die Strasse wendet sich
ins Politische in dem 12-Minuten-Song RADIO BAGHDAD, einer
Mischung aus Wiegenlied und zornigem Aufschrei, in dem sie
von dem Bombardement auf Bagdad aus der Sicht der Betroffenen
spricht. Aus der CITY OF BAGHDAD als Wiege der Zivilisation
wird die CITY IN ASHES, und mitten ins Wiegenlied - SLEEP
MY CHILD - setzt sie die panischen Rufe RUN RUN RUN. Ein aufwühlender
Antikriegs-Appell, den Patti Smiths treue Weggefährten
Lenny Kaye (Gitarre) und Jay Dee Daugherty (drums) sowie Tony
Shanahan (bass, keyboard) und Oliver Ray (Gitarre) mit schlichten,
kräftigen Riffs und schweren Rhythmen unterstreichen.
Aber
Patti Smith war und ist nicht nur die zornige Kämpferin.
Sie kann so leise und lapidar sein wie in dem Song CARTWHEELS
und mit soviel gebrochen zartem Schmelz singen wie in dem
Spiritual TRAMPIN, der das Album beschließt, in dem
sie von ihrer Tochter Jesse Smith - ein Debüt-Auftritt
- am Klavier begleitet wird, eine kurze Zugabe und ein Höhepunkt
des Albums.
Am
1. Mai tritt Patti Smith von Brooklyn aus ihre lange Reise
durch Amerika und Europa an, um von GHANDI, von RADIO BAGHDAD
und von MOTHER ROSE zu singen. COME ON PEOPLE, GATHER ROUND;
YOU KNOW WHAT TO DO fordert sie in JUBILEE, ihrer Hymne auf
jenes Amerika, das die Sklaven befreit hat und auf Menschenrechten
gründet, ein Amerika, für das Patti Smith seit dreißig
Jahren als musikalische Botschafterin streitet.
©
Hans Happel, 25. April 2004