Suchen nach:
In Partnerschaft mit Amazon.de

Intellektuelles Hörvergnügen
Gast-Beitrag von Stephan Stöckel


Die Band "Tocotronic" ist auch nach 17 Jahren nicht Schall und Rauch! Bester Beweis ist ihr aktuelles Album "Schall und Wahn", aus dem die Gedankentiefe nur so entgegenschallt. Die Musiker haben ihr neues Opus kurzerhand mit einem Romantitel von William Faulkner ("The Sound And The Fury") überschrieben, wobei dieser wiederum auf einem Zitat aus Shakespeares weltberühmtes Drama "Macbeth" fußt: Das Leben, sagt der tragische König, sei "eines Toren Fabel nur, voll Schall und Wahn, jedweden Sinnes bar".

Es sind wieder die Texte von Sänger Dirk von Lowtzow, die dem Werk ihren besonderen Stempel aufdrücken. Dieser zeigt sich von seiner kryptischen, doppelbödigen, zweideutigen, vielschichtigen, kurzum multiinterpretierbaren Seite. Im Video zur ersten Singleauskoppelung "Mach es nicht selbst" huschen die Baumarkt-Biber durchs Bild, so als würden "Tocotronic" den "Do It Yourself-Wahn" ironisch aufs Korn nehmen. Es könnte aber auch die immer mehr ums ich greifende Bedienungsmentalität gemeint sein, wenn uns "Tocotronic" mehrfach einschärfen: "Was du auch machst, mach es nicht selbst".

Und was sagt der Schöpfer dieser Zeilen zu alledem? Dirk bekennt im Internetmagazin "Laut": "Es geht nicht gegen Do It Yourself an sich, sondern gegen die permanente Forderung im zeitgenössischen Kapitalismus, sich selbst kreativ zu mobilisieren. Dieses aus sich selber Herausschöpfen und diese Authentizität im Schaffen, die ja zur Ideologie erhoben wurde." Ist der punkige Kracher "Stürmt das Schloss" ein Seitenhieb auf die Trutzburg Europa, die sich gegen alles Fremde abzuschotten versucht oder auf den Casting-Wahn unserer Tage?

"Tocotronic" lassen dem Zuhörer Raum zum Interpretieren, spielen aber auch mit dem Moment der Überraschung: Worte wie "Terror", "Folter", "Blut", "Tyrann", die dem Vokabular des Antiterrorkampfes entnommen zu sein scheinen, werden in einen ungewohnten Kontext des Zwischenmenschlichen, des sozialen Miteinanders gerückt. "Tocotoronic" heben sich mit alledem aus dem Durchschnitts-Einerlei Deutscher Musik wohltuend ab. Auch musikalisch.

Mal schwelgen die Jungs im Geigenschmelz, zeigen sie sich im ruhigen Singer-Songwriter-Gewand, um sich anschließend als fröhliche Polka-Musikanten oder rüde Punker neu zu erfinden. Dirks Stimme verfügt über emotionale Tiefe, blickt mit dunklem Timbre in die Abgründe menschlicher Seelen, um im nächsten Moment in den höchsten Tönen zu jubilieren. Dirk von Lowtzow (Gesang und Gitarre), Jan Müller (Bass), Arne Zank (Schlagzeug, Keyboard und Gesang) und Rick McPhail (Keyboard und Gitarre) kultivieren auf ihrem neuem Album, das die Spitze der deutschen Album-Charts erklomm, auch ihre allseits bekannte Antihaltung: "Keine Meisterwerke mehr" heißt eines ihrer neuen Stücke.

Auch wenn es die Musiker mit dem Hang zur Untertreibung vielleicht nicht hören mögen: Ein solches haben sie geschaffen!

"Tocotronic: Schall und Wahn"
ist eine Gast-Kritik von Stephan Stöckel.
© Stephan Stöckel, Februar 2010
 

[Archiv] [Up]