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Die Büchse der Pandora


Ein Schleier kann täuschen. Man kann ihn als Ausdruck religiösen oder kulturellen Selbstverständnisses sehen, oder als Symbol für die fehlende Gleichberechtigung in islamisch geprägten Gesellschaften - doch keinesfalls sollte man die Person, die sich darunter verbirgt, unterschätzen.

Die Frau, die hier mit dem Schleier für die Kamera des Fotografen Youssef Nabil posiert, ist Natacha Atlas, "L'Égyptienne" - die Ägypterin - wie ein Titel lautete, den sie 1998 mit der französischen Ethnopop-Band "Les Négresses Vertes" aufnahm. Geboren und aufgewachsen ist sie allerdings in Belgien, und ihre familiären Wurzeln liegen in verschiedenen arabischen Ländern. "Spiel mit den Kulturen" schrieben wir über ihr sensationelles Album "Ayeshteni" - und seither hat ihr Grad an Perfektion noch zugenommen.

Umgarnend, einnehmend, betörend: in ihr steckt der ganze Zauber des Orients - solange es ihren Zwecken dient. Dann trommeln ganze Heerscharen arabischer Percussionisten Phantasien von Bauchtanz und Anmut herbei, oder sie singt mit leise beschwörender Stimme sinnliche Balladen wie "Adam's Lullaby", Eröffnungstitel ihres bislang letzten Studioalbums "Something Dangerous". Sollte Kleopatra Cäsar mit der Hilfe von Musikern um den Verstand gebracht haben, dann gehörten sie zu den Vorfahren von Natacha Atlas.

Aber in dem Moment, in dem man sich dem orientalischen Rhythmusgefühl gerade vollends hingeben will, lüftet Natacha Atlas den Schleier: Breakbeats, Scratches, Hiphop, Dub und Drums & Bass - ein donnernder Ritt durch die Clubszene des Okzidents mit einem Übermaß an Temperament, von dem die meisten ihrer westlichen Kollegen nur träumen können. Sie spielt mit mit den Kulturen ? Mehr noch - Sie wickelt sie um den kleinen Finger.

Vor diesem Rhythmusgefühl, vor diesem Geschick im Umgang mit Texten und Arrangements ergeben sich sogar sperrige Unikate von Jacques Brel ("Ne me quitte pas", auf "Ayeshteni") bis James Brown ("Man's World", auf "Something Dangerous") ohne jeden Widerstand.

War ihr Erfolg planbar ? 1999 tourte sie mit Jimmy Page und Robert Plant durch Großbritannien. Da hatte sie gerade ihr Album "Gedida" veröffentlicht, längst nicht mehr ihr Debüt, aber der endgültige Durchbruch. Parallel wurde der französischsprachige Song "Mon amie la Rose", eine chansonesque Nummer (im Original von Francoise Hardy) mit arabischem Rhythmus und flirrenden Beats, in Frankreich als Single veröffentlicht und prompt 130.000-fach verkauft. Natacha Atlas erhielt daraufhin den französischen Musikpreis als beste Sängerin des Jahres.

Seither ist sie in der multikulti-begeisterten Musikszene Frankreichs ein Star, doch auch international reißen sich die Kollegen darum, mit ihr zu arbeiten. Franco Battiato, Jean-Michel Jarre, Jah Wobble, Indigo Girls, Peter Maffay, Nigel Kennedy, Sinéad O'Connor: Kaum ein Musiker auf dem Weltmusik-Trip kam in den vergangenen Jahren an Natacha Atlas vorbei, und daran wird sich auch in Zukunft wohl nichts ändern.

Natacha Atlas ist, wie ihr jüngst veröffentlichtes "Best of"-Album beweist, eine Konstante im musikalischen Grenzbereich zwischen Abend- und Morgenland. Dabei ist ihr stilistisches Repertoire ebenso breit gefächert wie die Wahl ihrer Kooperationspartner. Neben epischen Balladen mit arabischem Gesang und klassischen Streichern gibt die Atlas ebenso R&B wie auch Drums&Bass, Trance, Dance, Hiphop oder indisches "Hindi-Pop"-Feeling.

So erscheint auch ihre Best-of-Compilation als Sammelsurium von der Unvorhersehbarkeit der Büchse der Pandora. Ihre Vielseitigkeit hat etwas Berauschendes, und in der Auswahl ihrer Stilmittel ist sie absolut kompromisslos. So traf sie auch für die "Best-of"-CD eine unberechenbare Auswahl, indem sie einige ihrer früheren Titel neu aufnahm bzw. abmischte, so etwa das Duett mit Sawt el Atlas ("Mistaneek") oder den DJ-Remix von "Leysh nat'arak". Lediglich das flirrende "I put a spell on you", erstmals auf "Ayestheni", blieb unversehrt - hier war wohl wirklich keine Steigerung mehr möglich, Gesang und Rhythmus steigern sich bis zur Ekstase; Scratches, arabische Streicher und ein Männerchor heizen die Atmosphäre bis zum Siedepunkt an.

Wie hier und bereits vorher mit ihrer Adaption von "Mon amie la rose" (s. Videoclip) unter Beweis gestellt,

gehören eigenwillige Coverversionen zu Natacha Atlas' unbestreitbaren Stärken. Das Best-of-Album dokumentiert erstmals die bislang nur als Single erhältliche Fassung des James Bond-Titelsongs "You only live twice", und - unverzichtbar - die ironische Abrechnung mit der Männerwelt ("It's a man's world"). Wie gesagt. Ein Schleier kann täuschen. Mann sollte die Künstlerin darunter nie unterschätzen. Zumal nicht eine vom Format einer Natacha Atlas.

 

© Michael Frost, 01. Juni 2003
Update: 05. Mai 2005

 

 


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