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Das plötzliche Ende auf
dem Gipfel des Erfolgs


"Sie waren eine sehr coole Band und genossen ihren kurzen Ruhm, aber möglicherweise zeitweise ein bisschen zu sehr."

"Sie machten Fortschritte, aber nach dem Muster 'Zwei Schritte und einen zurück': Sie absolvierten brilliante Auftritte, aber die Langeweile langer Reisen kompensierten sie mit Tragetaschen voller Alkohol."

Zwei Stimmen über eine Band: Catatonia. Das Quintett aus Wales, das sich vor gut einem Jahr, im September 2001, plötzlich auflöste. Nun, Eingeweihte hatten um die Zukunft, sprich: Gesundheit, der Bandmitglieder wohl schon länger gefürchtet. Bereits in den Monaten vor dem Aus war über angebliche Zusammenbrüche und Klinikaufenthalte von Catatonia-Frontfrau Cerys Matthews berichtet worden. Die Band sei von ihrem Erfolg überrollt worden, war zu hören. So gesehen erscheint es nachvollziehbar, dass der Split ausgerechnet im Moment ihres größten Coups unvermeidbar war:

"Paper Scissors Stone" war im Juli 2001 erschienen und wurde von der Kritik einhellig als Meisterwerk bejubelt, doch bereits mitten in den anlaufenden Promotionapparat platzte die Nachricht vom Ende. So wurde aus "Paper Scissors Stone" nicht nur das beste, sondern auch das letzte Catatonia-Album, und so mancher Artikel, der als Album-Rezension begonnen hatte, endete als Band-Nachruf.

Weil Catatonia schon ihre Release-Gigs im Juli 2001 nicht mehr absolvieren mochten, alle später geplanten Promotiontermine absagten und es aufgrund des Splits auch nicht mehr zu Single-Auskopplungen kam, muss die jetzt, ziemlich genau ein Jahr nach dem Ende der Band veröffentlichte Greatest Hits-Compilation mit Ausnahme des fantastischen "Stone by stone" ohne die Stücke von "Paper Scissors Stone" auskommen. Eigentlich schade, denn das Album war überreich an hitverdächtigen Titeln wie "Godspeed", "Fuel", "The mother of misogyny" und dem zynischen "Is everybody here on drugs ?"

Aber Catatonia waren schon vor ihrem letzten Album eine erfolgreiche Band, die sich mit melodischem Poprock und bedeutsamen Texten etabliert hatte. Die "Greatest Hits" liefern dafür den Beweis.

Ihre Unverwechselbarkeit verdankte die Band vor allem der heiseren Stimme von Cerys Matthews, die dem Catatonia-Sound mit ihrem Gesang ihren Stempel aufdrückte. Brüchig und rau, strotzend vor Leben und Erlebtem, so verlieh Cerys den Aufnahmen Tiefe und Schwere, die letztlich den kleinen Unterschied ausmachte: Catatonia transportierten Botschaften. Wenn nicht direkt in den Texten (dort allerdings nicht minder brilliant), dann im Ausdruck ihrer Musik.

Ihren ersten großen kommerziellen Erfolg hatten sie 1998 mit der Single "Mulder and Scully". Der Titel von ihrem zweiten Album "International velvet" wurde in England zum Top 5-Hit und machte Catatonia zu Stars.
Tom Jones holte Cerys Matthews für sein "Reload"-Projekt. Ihr Duett "Baby, it's cold outside", das eine ganz neue Seite des Potenzials von Cerys' Gesangsleistung offenbart, ist erfreulicherweise auch auf dem erwähnten Greatest Catatonia Hits-Album zu zu hören.

Cerys' Teilnahme an dem Tom Jones-Album bestätigt die viel versprechende Position, die Catatonia Ende der 90er Jahre einnahmen: Gemeinsam mit so unterschiedlichen Größen wie den Stereophonics, Portishead, Robbie Williams bildeten sie die Spitze der britischen Rockszene auf der Suche nach einem Ausweg aus der Sackgasse des Britpop.

Auch deshalb wurden die Erwartungen immer größer. In ihrem "Nachruf" auf Catatonia schrieb die BBC, es habe 1998/99 kaum einen Tag gegeben, an dem das Gesicht von Cerys Matthews nicht in irgendeiner Zeitung oder Illustrierten zu sehen gewesen wäre. Sie genoss den Erfolg, und die Medien waren von ihrer charismatischen Präsenz hingerissen, dem Charisma einer modernen, emanzipierten und selbstbewussten Künstlerin, die alles andere war als eine Marionette irgendeines Managements oder ihres Plattenlabels, sondern eine Vollblutmusikerin mit klarem Verstand, die mit unkonventionellem Poprock und breitem walisischen Akzent die Charts durcheinanderwirbelte - keine Spur von den späteren Gerüchten über Sinnkrisen und Depressionen.

Inzwischen scheint sie zu sich selbst zurückzufinden. Mitte Juni 2002 begann sie tatsächlich mit den Aufnahmen für ein Soloalbum, das sie schon vor längerer Zeit angekündigt hatte. Zu diesem Zweck hat sie sich nach Nashville zurückgezogen und veröffentlicht auf ihrer eigenen Website immer wieder knappe Tagebuchnotizen über den Fortgang ihrer Aufnahmen.

So wendet sich das Blatt augenscheinlich doch noch zum Guten, und vielleicht gibt es in nicht ganz ferner Zukunft an dieser Stelle Gelegenheit, das neue Album einer genesenen, deshalb umso kraftvolleren und energischeren Cerys Matthews zu würdigen.

Michael Frost, 21.09.2002

Catatonia: "Greatest Hits" (WEA) ist ab dem 23. September 2002 erhältlich.

 

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