Suchen nach:
In Partnerschaft mit Amazon.de

 

Der Gipfel steht vielleicht noch bevor


Von irgendwoher muss die Eingebung gekommen sein. Die Eingebung, die aus einer knapp überdurchschnittlich talentierten Britpopband eines der größten Ereignisse der jüngeren Vergangenheit machte: innovativ, kreativ, stilbildend.

Faszinierend: Die beste Rockband seit den Beatles ist überhaupt keine. Keine Rockband im traditionellen Sinne. Manche Kritiker sollen ja mit der Stoppuhr neben dem Lautsprecher gesessen haben um festzustellen, wie lange das Album "Kid A" brauchte, bis überhaupt einmal eine Gitarre zu hören war. Und auch, wenn Radiohead nach oberflächlichem Eindruck dem Gitarrenrock frönen, so wie auf dem Album "OK Computer", dann klingt das doch völlig anders als das, was man bis dahin gewohnt war. Nicht selten gestalten sie einen einzigen Song als Mini-Oper: "Paranoid Android" beispielsweise. Obgleich nur knapp sechs Minuten lang, besteht das Stück aus mehreren verschiedenartigen Elementen, die den Hörer auf Achterbahnfahrt schicken.

Ein unverzichtbarer Bestandteil des Radiohead-Sounds ist seit "OK Computer" die Umsetzung epischer Elemente: Das lautmalerische "Exit Music (For a Film)" produziert die Bilder im eigenen Kopf. Hier finden wir den Vorläufer für das, was Bands wie Sigur Rós beflügelte. Das wechselvolle Zusammenspiel von Thom Yorkes eindringlicher Stimme und Jonny Greenwoods brüllender Gitarre beschreibt einen bisweilen unerträglichen Spannungsbogen, der sich tief ins Gedächtnis der Zuhörer eingräbt und beim bloßen Gedanken an die Musik Gänsehaut erzeugt.

"OK Computer" war der Durchbruch. Das ebenso opulente wie sperrige Werk setzte Maßstäbe, die man Radiohead bis dahin wohl nicht zugetraut hätte. Die Band war mit der vergleichsweise eingängigen Single "Creep" berühmt geworden.

Im Vergleich zu den "großen" Britpopbands der 90er Jahre wie Blur und Oasis galten Radiohead schon immer als verschroben, intellektuell und "verkopft". Das wachsende Medienspektakel war ihnen suspekt, doch je mehr sie sich zurückzogen, umso erfolgreicher wurden sie. Als 2000 der lang erwartete Nachfolger von "OK Computer" erschien, war der Hype fast grenzenlos, obwohl Thom Yorke verkündet hatte, es werde weder Video-Clips noch Single-Auskopplungen des Albums geben.

Man mag sich streiten, welches Radiohead-Album nun ihr bestes Werk ist. "OK Computer" möglicherweise. Doch im Vergleich zu den späteren Werken bleiben die Ansätze traditioneller Rockmusik noch erkennbar. "Kid A" ist in seiner Gesamtheit anders. "Geräusche, Töne und Laute, aus denen schließlich gewaltige Klangteppiche gewebt werden, die mit 'OK Computer' nicht mehr viel verbindet", urteilten wir damals. Oder ist es doch "Amnesiac" ? Noch vor der Veröffentlichung von "Kid A" hatten Radiohead an diesem Album gewerkelt. Ihre Arrangements wirken darauf nochmals feiner, detaillierter, entrückter. "Amnesiac" ist vielleicht die Essenz der vorigen Alben, doch bei weitem keine Rückkehr zum Gitarrenrock. Im Gegenteil. Barbara Allen schrieb über "Amnesiac" in der Londoner "Times": "Ich, für meinen Teil, bin mir nicht sicher, dass es von Radiohead besonders nett war, die Popmusik umzubringen. Gewiss, sie war ein bisschen faul geworden, ein bisschen behäbig und selbstgerecht und hätte wohl eine Aufmunterung verdient ..." (Pop-Lexikon)

Auch mit "Hail to the Thief" wird die Popmusik keineswegs wiederbelebt. Vor allem die beunruhigenden und drängenden Sounds, die die Spannung von "Amnesiac" und "Kid A" ausmachten, wurden auf das neue Album übertragen. Unablässig flimmern digitale Sounds, wabern schräge Gitarren und wimmert der wiederum grandiose Thom Yorke durch die zerklüfteten Soundlandschaften, die er gemeinsam mit seinen Kollegen und Produzent Nigel Godrich schuf.

Überhaupt Thom Yorke. Er hat sich längst zu einem männlichen Pendant zu Portishead-Sängerin Beth Gibbons entwickelt. In seiner brüchigen und melancholischen Stimme schwingt ein Maß an Verletzbarkeit, Depression und Einsamkeit mit, wie man es bei männlichen Gesangskollegen bestenfalls von Jonsi Birgisson (Sigur Rós) oder Robert Smith (The Cure) kennt. Yorke geht jedes Pathos ab, schutzlos liefert er sich aus, wenn er in seine Texte eintaucht. Die zum Reißen gespannte Stimmung erweitert er nochmals um ein Vielfaches.

Wer eine Kostprobe benötigt, höre am besten in einen Titel auf "Hail to the Thief" hinein. Vor sparsamster Instrumentalbegleitung und unvermitteltem Händeklatschen (!) lässt die monotone und bedrohliche Entschlossenheit seiner Stimme das Blut in den Adern gefrieren: "We suck young Blood, we want the young Blood."

Eine politische Anspielung ? Sicherlich. Radiohead ist eine politische Band. Thom Yorke über den Text dieses Songs: "Es handelt von Sex als eine Art Währung, wie sie in Hollywood üblich ist. Es ist Ausdruck dieses verzweifelten Drangs, um jeden Preis jemand anders sein zu wollen, selbst wenn das bedeutet, dass man wie eine Beute gerissen und von hinterhältigen Schmarotzern ausgesaugt wird. Das findet man in der Musikindustrie, der Pornoindustrie, aber auch in der Politik, wenn man etwa guckt wie die extremen Rechten junge Leute verführen, sich ihnen anzuschließen. Faschismus beginnt mit einem frustrierten 50jährigen Sadomasochisten, der verwirrte Teenager aufgreift und sie für ein paar Jahre bearbeitet, bis sie sich in mörderischen Skinhead-Schweine verwandelt haben."

Gut möglich , und vieles deutet darauf hin, dass "Hail to the Thief" der eigentliche Höhepunkt der musikalischen Arbeit von Thom Yorke, Edward O'Brian, Phil Selway, Jonny und Colin Greenwood ist. Oder aber - arme Konkurrenz - der Gipfel steht erst noch bevor.

© Michael Frost, 12. Juni 2003

 

 

[Archiv] [Up]