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Der Volkssänger


"Kurios, aber wahr, es gibt nur zwei Persönlichkeiten in der Bundesrepublik Deutschland denen eine Bestattung auf ihrem eigenem Grundstück gestattet worden ist. Es sind die Grabstätten von Franz Josef Strauß in Bayern und in Nordfriesland, das Grab von Rio Reiser."

So ist es auf der Rio Reiser-Website zu lesen. Ob ihm das gefiele ? Ja, vermutlich. Nicht um der eigenen Bedeutung willen (er drängte sich nie in den Vordergrund, man hat vielmehr den Eindruck, dass er sich selbst zu sehr vernachlässigte und Raubbau mit dem eigenen Körper betrieb), eher, um Strauß posthum zu ärgern. Rio Reiser war bekannt für deutliche politische Kommentare, mit denen er oft sogar im eigenen Lager aneckte - aber bei den Konservativen immer und immer wieder mit Leidenschaft und Verve.

Damit ist ein erster Pfeiler seiner öffentlichen Biographie gesetzt: Der des politischen Sängers. Alles begann mit der Parole "Macht kaputt, was euch kaputt macht" - Hymne der Post-68er Ära, der Straßenkämpfer der 1970er Jahre. "Ich will nicht werden, was mein Alter ist", sang Rio, der eigentlich Ralf Möbius hieß, und wurde gemeinsam mit seiner mittlerweile legendären Band "Ton Steine Scherben" zum Schrecken einer ganzen Elterngeneration und konservativer Politiker überall in der Republik.

Rebellisch, anarchisch, unberechenbar - nie vorher hatte es in Deutschland solche Musik mit solchen Texten gegeben, die mit hemmungsloser Offenheit alles wegfegten, was auch nur den Anschein von Spießigkeit, Bürgerlichkeit und Establishment besaß.

"Keine Macht für niemand", ursprünglich im Auftrag der RAF geschrieben, dann von deren Kommandoebene aber abgelehnt, wurde nicht nur zum Inbegriff des Credos der Hausbesetzer-Szene, sondern einer ganzen protestierenden Generation. Die "Scherben" jedoch waren zunehmend genervt, fast ausschließlich als Propagandamaschine missbraucht zu werden, zogen sich immer weiter ins nordfriesische Fresenhagen zurück (übrigens in Begleitung ihrer Managerin Claudia Roth, später Bundesvorsitzende von Bündnis 90 / Die Grünen), wo sie u.a. Kinderplatten und Theatermusik produzierten.

Das ist eine weitere, oft unterschätzte Leidenschaft Reisers: Bühne und Film. Gemeinsam mit seinen beiden älteren Brüdern hatte er schon 1967 in Kreuzberg eine "Beat-Oper" komponiert und aufgeführt. Und nicht nur als Komponist, sondern auch als Schauspieler machte Rio sich einen Namen: Für seine Rolle als "Johnny West" (1977) im gleichnamigen Film erhielt er sogar den Bundesfilmpreis. Zweimal spielte er auch in Tatort-Folgen mit (1989 und 1995), beide Male steuerte er auch den Titelsong bei.

Die "Scherben" trennten sich 1985 endgültig. Rio blieb in Fresenhagen. Annette Humpe ("Ideal") produzierte seinen Solo-Erstling "Rio I", der bereits das unvergessene "König von Deutschland" enthielt, bis heute vielleicht sein bekanntestes Lied. Auf witzige und bissig-ironische Art, dazu mit einer Palette rhetorischer Stilmittel, wie sie kaum einer seiner Kollegen zu erreichen in der Lage ist, entfernte Rio sich mehr und mehr vom Dogmatismus und den einfachen Parolen der 1970er. Weil er aber auf von den Medien auf das Image als Polit-Rocker festgelegt war, fanden seine zahlreichen und mindestens ebenso guten Liebeslieder nicht die verdiente Aufmerksamkeit.

Alte Scherben-Fans verübelten ihm den kommerziellen Erfolg - aber neue Fans wogen den Verlust auf: Die Reiser-Biographie seiner späteren Plattenfirma Sony erwähnt, dass die "Emma"-Leserinnen ihn, bzw. "Sissy die Zweite", wie er sich selbst im Text zu "König von Deutschland" genannt hatte, zur "Frau des Jahres" wählen wollten.

Seine Lieder waren, anders als der aggressive Sound der Scherben, überraschend melodiös. Oft wurden sie als die wahre "Volksmusik" bezeichnet: Reiser, der Volkssänger, schrieb sowohl Kinder- und Weihnachts- als auch Seemannslieder ("Übers Meer"), einige der schönsten überhaupt.

Den Erfolg und die damit einher gehende Aufmerksamkeit nutzte Rio gezielt, um sich in das politische Geschehen einzumischen. Seine Single "Alles Lüge" wurde von den GRÜNEN, die er auch sonst unterstützte, als Wahlkampfmotto genutzt, und aus Protest gegen die Repressionen von HIV-Infizierten und AIDS-Kranken durch den CSU-Rechtsaußen Gauweiler sagte er alle Auftritte in Bayern ab.

Bereits 1976 hatte Rio sich als schwul geoutet. Seitdem hat er nicht oft darüber gesprochen, wie er Äußerungen über sein Privatleben insgesamt lieber vermied. In seinen Biographien werden Freunde und Lebenspartner eher beiläufig - oder gar nicht - erwähnt, so dass man beim Lesen das Gefühl nicht loswird, dass er in Wahrheit einsam war.
Und obwohl er sich in der nach außen tolerant und offenen "linken" Szene bewegte, wird es vielen seiner politischen Mitstreiter schwer gefallen sein zu akzeptieren, dass Rio seine Liebeslieder, die zweifellos zu den schönsten und poetischsten gehören, die jemals für die deutschsprachige Popmusik geschrieben wurden, für Männer schrieb.

Nach der Wende trat Rio, für die meisten Beobachter völligüberraschend und unverständlich, der PDS bei und unterstützte die Partei im Wahlkampf. Er, der anarchische Poet und Einzelgänger, organisierte sich, und das ausgerechnet in einer Partei, die noch ganz in der Tradition der vormaligen SED, völlig über-organisiert und über-hierarchisiert war. Sein Eintritt hatte Konsequenzen: Seine Lieder verschwanden aus den Radioprogrammen, Fernsehauftritte wurden seltener.

Und an dieser Stelle bekommt man vielleicht einen Einblick in eine verkannte Seite Rio Reisers: Die des empfindsamen Idealisten, der ständig auf der Suche ist nach der Lösung gesellschaftlicher Missstände, dabei auch irrationale Wege geht und umso ratloser wird, je höher sich die Probleme türmen. Der Zeitgeist blieb gegenüber Reiser unerbittlich.

Die selbstsüchtige Gesellschaft buchstabiert den Idealisten immer öfter als Idioten. Rio, der Sensible, der
(Ver-)Zweifelnde, der Fragende, der Poet, wurde in Talkshows geladen, um weiter den Bürgerschreck zu spielen - eine Rolle, die ihm schon lange nicht mehr lag - verheizt, unverstanden von seinen alten Fans, unverständlich für neue.

Bereits seit Beginn der 1990er Jahre verschlechterte sich auch sein Gesundheitszustand. Man spricht von Alkohol- und Drogensucht. Vor allem die Leber machte ihm Probleme. Immer öfter zog sich nach Fresenhagen zurück und lehnte es ab, weiter auf Tour zu gehen. Seine Musik wurde nach allgemeiner Einschätzung zwar von Album zu Album besser, aber die Medien ignorierten sie, weil Rio Reiser nicht ins Sendeschema passte.

Unverstanden ist er noch heute. Selbst seine Plattenfirma, die sich mit ihrer Rio Reiser-Präsentation im Internet viel Mühe gab, gibt den "König von Deutschland" heute für dümmliche Party-Sampler Marke "Hüttenkult" und "Big Brother"-Party-Compilations frei, wo man Rio zwischen Jürgen Drews, "Zlatko" und "Klaus & Klaus" wiederfindet. Gut, möchte man fast sagen, gut, dass er das nicht mehr erleben muss.

Er ließ sich seine Träume nicht nehmen, aber er schien zunehmend zu resignieren, worunter er stark litt. Die ihm immer so trefflich gelungene Ironie schlug in Zynismus um. Auf seiner letzten Platte ("Himmel & Hölle", 1995) sang er in Anspielung an den "König von Deutschland" sogar: "Nehmt mir die Krone weg - nehmt sie zurück - ich kann euch nicht führen, denn ich weiß den Weg nicht."

Er starb am 20. August 1996 nach einem Kreislaufkollaps und inneren Blutungen. Seitdem fehlt der deutschen Musikszene einer wie er. Und seine Texte.

Keine zwei Wochen später, am 1. September 1996 zollten ihm viele seiner Freunde und Wegbegleiter mit einem gemeinsamen Konzert im Berliner Tempodrom Tribut, darunter Herbert Grönemeyer, Ulla Meinecke, Nationalgalerie, die Einstürzenden Neubauten, Tim Fischer und "Frau Jaschke" aus dem Schmidt-Theater, mit dessen Begründer Corny Littmann ihn eine lange Freundschaft verband. (Das Konzert "Abschied von Rio" wurde auch auf CD veröffentlicht.)

Und Fresenhagen ist heute ein von seinem Bruder und einem eigens gegründeten Verein geführtes Veranstaltungszentrum und Künstlertreff. Einmal im Jahr wird dort der Rio-Reiser-Preis für den besten Politsong verliehen.

Zitat aus den Zielen des Vereins: "Das Rio-Reiser-Haus soll kein Ort sentimentaler Erinnerung sein, sondern ein Ort der Ermunterung. Der Ermunterung, die Kunst und das Leben mit schöpferischer Neugier zu erforschen, zu erkämpfen und zu genießen. Dort, wo Rio Reiser begraben liegt, soll sein guter Geist lebendig bleiben."

Das hätte ihm gefallen. Aber sentimental bleibt man doch, trotz der Aufforderung zum Gegenteil. Die Lücke, die sein Tod riss, ist einfach zu schmerzlich.

© Michael Frost / 01. August 2001

Quelle der biographischen Daten, Fotos und der Diskographie:
sonymusic.de / rioreiser.de
Eine ausführliche und lesenswerte Biografie gibt es auch im Archiv von germanrock.de.

 

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