Foto: Fanfare Ciocarlia: Iag bari (Booklet)

Grenzüberschreitung
Roma als Pioniere einer
gesamteuropäischen Kultur

Die Chancen für die kulturelle Selbstbehauptung osteuropäischer Roma haben sich seit dem Zusammenbruch der realsozialistischen Diktaturen prinzipiell verbessert, selbst wenn Entrechtung und rassistische Diskriminierungen in vielen Ländern immer noch zum gesellschaftlichen Alltag gehören und Ressentiments gegen die Minorität von verantwortlichen Politikern immer wieder missbraucht und zu Wahlkampfzwecken instrumentalisiert werden.



Die Musik ist für die Roma seit jeher wichtigster Ausdruck der eigenen kulturellen Identität. Nicht als romantisierendes Klischee, sondern als Mittel des Zusammenhalts. Mehr und mehr erreichen die vielfältigen Traditionen der Roma in Rumänien, Bulgarien, dem ehemaligen Jugoslawien und anderen Ländern auch Westeuropa. Die französischen "Gypsy Kings" dürften hier einiges an verdienstvoller Pionierarbeit geleistet haben, obwohl ihr sehr auf Mainstream getrimmter "Rom Pop" nicht gleichzusetzen ist mit dem, was jüngst Roma-Bands aus Osteuropa transportierten.

Internationale Bedeutung erlangte beispielsweise der Regisseur Emir Kusturica mit seinen gekonnten Mischung aus poetischer und sehr realistischen Darstellung des Lebens von Roma in Ex-Jugoslawien ("Time of the Gypsies", "Underground"). Soundtrack-Komponist Goran Bregovic ist inzwischen einer der ganz wenigen gesamteuropäischen Musiker, der seine Projekte zwischen Jugoslawien, Polen und Frankreich verwirklicht.

Beispielhaft für den Erfolg traditioneller Roma-Musik steht sicherlich das 12-köpfige Blasorchester rumänischer Roma "Fanfare Ciocarlia", das seine Karriere bei Hochzeitsfeiern im Heimatort der Musiker in der Nähe der Grenze zu Moldawien begann und mit furiosen Rhtythmen mittlerweile die Bühnen von Tokio, Berlin und New York eroberte. Wie die meisten Roma-Musiker singen sie auf Romanes und erhalten damit auch ihre sprachliche Identität.

Szenenfoto aus "Underground"
Szenenfoto aus "Underground" Regie: Emir Kusturica

Vera Bilá mit ihrer Band Kale
Vera Bilá und ihre Band "Kale"


Taraf de Haïdouks

Ferus Mustafov 4
"Ferus Mustafov 4" aus Mazedonien

"Wir singen, um die Sprache zu retten", sagt auch aus Tschechien stammende Vera Bilá, die wohl berühmteste Roma-Sängerin, und sie beschreibt damit den hohen Anpassungsdruck, den die Bevölkerungsmehrheiten in fast allen europäischen Ländern auf die jeweilige Roma-Minderheit ausüben. Auch in Deutschland wird Romanes als Minoritätensprache übrigens noch immer nicht anerkannt.

Zu außergewöhnlicher Popularität gelangte inzwischen auch "Taraf de Haïdouks", eine 13 Sänger und Instrumentalisten umfassende Combo aus Bukarest mit ihrem Album "Band of Gypsies". Der Live-Mitschnitt präsentiert die Gruppe erweitert um eine Vielzahl weiterer Roma-Künstler aus Mazekonien, Bulgarien und der Türkei. Die Romakünstler stellen damit unter Beweis, dass ihr Volk eine "Nation ohne Staat" ist, dessen kultureller Zusammenhalt nicht durch nationalstaatliche Grenzziehungen eingeschränkt werden kann.

Die Zahl von Veröffentlichungen viel versprechender Roma-Bands steigt stetig. 2002 veröffentlichte Tropical Music beispielsweise das hervorragende Album der "Ferus Mustafov 4" aus Mazedonien, das unterschiedliche Rhythmen des Balkans, der Türkei und Arabiens vereint. Das Berliner Label Piranha, bei dem u.a. drei Alben der "Fanfare Ciocarlia" erschienen waren, gründete sogar eigens ein neues Label, das sich speziell mit Album-Veröffentlichungen von Roma-Musikern profilieren soll: "Asphalt Tango Records".


Das erste Album des Labels ist bereits erschienen und stellt den im bulgarischen Kjustendil beheimateten Jony Iliev mit seiner Band vor. Iliev wuchs als jüngster von acht Brüdern in einer musikalischen Familie auf, weshalb er seinen Weg als "vorgezeichnet" betrachtet. Inzwischen gilt er als einer der wichtigsten Vertreter einer jungen Generation von Roma-Musikern, die sich in der bulgarischen Hauptstadt Sofia angesiedelt hat und dort ihre Gedanken "über das schillernde Leben der Großstadt, die Sehnsucht nach weiter Ferne und das Leben auf den ewig schlammigen Gassen des Zigeunerviertels von Kjustendil" (Pressetext) vertonen.

Die Musik Ilievs lässt sich nur schwer auf ein bestimmtes Genre festlegen. Es finden sich sowohl orientalische Einflüsse als auch Flamenco, Blues, Pop und traditionelle Folklore. Rasche Tempi-Wechsel und temperamentvoller Gesang bestimmen das Temperament des Albums. Der Titel "Ma Maren Ma" bedeutet "Schlagt mich nicht" und erzählt von der Gewalt, der sich die Roma auch heute noch vielfach ausgesetzt sehen. So ist auch Iliev ein Beispiel für das gewachsene Selbstbewusstsein der Roma, die Musik auch als Instrument gegen die eigene Unterdrückung zu nutzen, sich stärker untereinander, aber auch mit anderen Künstlern auszutauschen und so zu einer wirklichen gesamteuropäischen Kultur zusammenzuwachsen.

© Michael Frost, Februar 2003

Jony Iliev
Vertreter der jungen Szene aus Sofia:
Jony Iliev mit seinem Album-Debüt
"Ma maren ma"

next www.jony-iliev.com


TARAF DE HAIDOUKS
Aktuelles Album: BAND OF GYPSIES

CRAMMED/EFA CD 80252

VERA BILÁ & KALE
Aktuelles Album: ROVAVA
(BMG Ariola 74321 895 842)


 

FANFARE CIOCARLIA
Aktuelles Album: IAG BARI
(Piranha CD-PIR1577)

FERUS MUSTAFOV 4
Aktuelles Album: THE HEAT OF BALKAN GYPSY SOUL
(Tropical Music 68.825)

JONY ILIEV & BAND
Aktuelles Album: MA MAREN MA
( ATR/EFA CD 69200)

 


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