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"Sound-Biografie" eines weisen Pianisten
von Hans Happel

 

Es ist ein unscheinbar kleines und dennoch anrührendes Thema, ein Andantino aus dem Zyklus der „Kindheits-Bilder“ des armenischen Komponisten Aram Chatschaturjan (1903 – 1978), eine simple melody, die unter den Händen des Pianisten Richie Beirach wie eine Mischung aus Chopin, Debussy und Satie klingt, ein Children Song aus alten Zeiten spätromantisch und impressionistisch eingefärbt, den Beirach in 9 Variationen in die Gegenwart entführt.

Knappe Stücke, die das schlichte Thema durchscheinen lassen, um es mal mit ausgreifenden Rhythmen und strahlend hell ins Geburtsland des Jazz zu versetzen(„Sun“) oder mit leisen und langsamen Klängen tief einzudunkeln („Moon“).

Von Variation zu Variation erlaubt sich Beirach – sehr gewitzt – stets größere Freiheiten im Umgang mit seinem Material, er wechselt die Stimmungen, die stilistischen Elemente, er berührt die Grenzen der Tonalität, er löst den Rhythmus auf, er verlangsamt und verzögert, so öffnet er das Kinderlied für düstere, für tiefere Räume, um schließlich in eine fast feierliche Klarheit und Einfachheit zurückzufinden und in der letzten Variation ein Wiegenlied („Good Night“) erklingen zu lassen, das sich als heimlicher Kern des Originals entpuppt, so nahe ist es wieder bei Chatschaturjan angekommen.

Wenn Beirach – geradezu listig – Gershwins „I Got Rhythm“ an diese Variationsfolge anhängt, scheint er augenzwinkernd darauf hinzuweisen, dass der berühmter Titel möglicherweise auch nichts anderes als eine Adaption des Children Song sein könnte. Zumindest verweist der 61-jährige gebürtige New Yorker, der seit 2000 in Leipzig an der Hochschule für Musik als Professor für Jazz-Klavier unterrichtet, auf die europäischen Wurzeln dieses Welthits aus dem American Songbook.

Er treibt das Spiel noch weiter, er beendet seine Hommage an Chatschaturjan mit der Wiederholung einer seiner Variationen, diesmal ausgedehnt auf fast 10 Minuten und zu einem kleinen Meisterwerk gestaltet, ein Stück spätromantisch eingefärbter und dennoch zeitgenössischer Musik. Beirach zeigt mit dieser großartigen Solo-Aufnahme, der ersten seit 10 Jahren, wie sehr er beides zugleich ist: Komponist und Improvisationskünstler, er selber nennt diese für ihn typische Mischform „comprovisation“ und im Titelstück „Crossing over“ spielt er noch einmal mit beiden Elementen, der auskomponierten Melodie, die wiederum an den Children Song erinnert, und der Freiheit zur Improvisation.

Dabei verzichtet Beirach konsequent auf jede Überzeichnung, er verzettelt sich nicht, seine Musik bleibt streng, klar, durchsichtig, seine Adaptionen von Gershwin, Cole Porter („What Is This Thing Called Love“) und Duke Ellington („Reflections in D.“) klingen fast wie Eigenkompositionen, „in den Jazzstücken spiegeln sich Aspekte der europäischen Moderne“ - schreibt Bert Noglik in den Liner Notes zu dieser CD, die er eine musikalische Reise nennt, die „Sound-Biografie“ eines weisen, unendlich souveränen Pianisten, der auf eine 48-jährige Karriere zurückblickt, der mit fast allen Größen des Jazz zusammengespielt hat und im Jahr 2007 mit seinem ständigen Duo-Partner Gregor Hübner das mittlerweile 10. Album veröffentlichte ("New York NRG Quartet").

Mit dem Solo-Album „Crossing over“ bewegt sich Richie Beirach voller Gelassenheit, Reife und Frische vom Alter in die Kindheit und zurück. Eine außerordentliche Einspielung!

© Hans Happel, 01. März 2009

 


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