Mit 
            der Abgeklärtheit eines Showveterans und dem Habitus eines Dandys 
            hatte er jüngst noch die Geschichte des Kennedy-Clans ins Mikrofon 
            gesäuselt: Benjamin Biolay, der gerade 30-Jährige, dessen 
            Album-Debüt "Rose Kennedy" von Kritikern und Publikum 
            gleichermaßen begeistert goutiert wurde. 
          Jetzt 
            ist er wieder da, und das gleich mit einem Doppelalbum: "Négatif". 
            Es ist, als sei der Knoten geplatzt. Biolay wirft sein erhebliches 
            Können als Songschreiber, Arrangeur und Sänger in die Waagschale 
            und entwirft in den neunzig Albumminuten seine opulente Vision zeitgenössischer 
            französischer Musik, die im 60er-Jahre-Sound eines Serge Gainsbourg 
            wurzelt und eine Brücke zu aktuellen internationalen Trends, 
            wie dem Elektropop von Jay-Jay Johanson oder dem Triphop à 
            la Portishead schlägt. 
          Ironisierende 
            Country-Elemente, großes Filmorchester, die traurige Ballade, 
            flimmernde Breakbeats - "Négatif" verfügt über 
            all diese Elemente, und Biolay flüstert und raunt dazu, finster, 
            morbid und geheimnisvoll, "Mais mort ou vif je reste négatif 
            ..." 
          Schon 
            auf "Rose Kennedy" war Biolay in die Rolle des Mörders 
            geschlüpft und hatte aus dessen Sicht das Attentat auf Robert 
            Kennedy geschildert ("Los Angeles"). Ähnliche Motive 
            werden auch auf "Négatif" aufgegriffen, und zwar 
            bereits im ersten Titel "Billy Bob a raison", der die Geschichte 
            des Massenmörders Theodore Bundy erzählt, der in den 1989 
            in Florida hingerichtet wurde, nachdem er wegen Mordes in dreiundzwanzig 
            Fällen verurteilt worden war. Benjamin Biolay schildert in seinem 
            bedrückenden Opener die Situation, in der Bundy seine Opfer lockte: 
            Er bandagierte seinen Arm mit einem falschen Gips, täuschte dann 
            auf einsamen Landstraßen eine Autopanne vor und weckte die Aufmerksamkeit 
            der Vorbeifahrenden. Und wenn eine junge Frau ihre Hilfe anbot, dann 
            erschlug er sie mit dem Wagenheber. 
          Auch 
            wenn Biolay die Verbrechen während des Albums wiederholt nachzeichnet, 
            so gibt es dennoch Elemente, in denen wenigstens die Musik fröhliche 
            Elemente aufgreift, so beispielsweise "Chaise à Tokyo" 
            (mit Biolays Schwester Coralie Clément als Backgroundsängerin), 
            oder "Little Darlin'", für das er den Country-Schlager 
            "Little Darling, Pale of Mine", eine Aufnahme von Jimmy 
            Rodgers & The Carter Family aus dem Jahr 1928 für den Grundrhythmus 
            sampelte. 
          Erstmals 
            schrieb, komponierte und produzierte Biolay ein ganzes Album praktisch 
            im Alleingang. Von seiner langjährigen musikalischen Partnerin 
            Keren Ann Zeidel hat er sich offensichtlich verabschiedet, aus welchen 
            Gründen auch immer. Doch die Trennung scheint ihm schwer zu fallen, 
            denn der gebürtigen Holländerin hat er auf "Négatif" 
            ein ganzes Lied gewidmet ("La Pénombre des Pays-Bas"). 
            "Le Jour se lève", heißt es dort, "pour 
            la premiere fois dans la pénombre des Pays-Bas à mes 
            côtés tu n'es pas là pour la premiere fois". 
            
            ("Der Tag erwacht zum ersten Mal aus dem Dämmerlicht 
            der Niederladnde, und du bist zum ersten Mal nicht an meiner Seite")
          Keren 
            Ann fehlt nicht nur als Co-Autorin, sondern auch als stimmliche Begleitung 
            im Hintergrund. Neben Coralie Clément ist dort nun Chiara Mastroianni 
            zu hören, mit der Benjamin Biolay seit einiger Zeit verheiratet 
            ist. 
          Doch 
            wie gesagt: Ein Knoten ist geplatzt, und seither ist Benjamin Biolay 
            nicht zu stoppen. Statt seine Energie mit einer nicht minder kreativen 
            Künstlerin wie Keren Ann zu teilen, reicht seine Schaffenskraft 
            derzeit offenbar sogar für mehrere Alben: Kaum drei Wochen nach 
            dem Erscheinen von "Négatif" stand in Frankreich 
            bereits ein weiteres Biolay-Album in den Regalen. Nicht unter seinem 
            Namen, sondern für Valerie Lagrange, deren Comeback-Album ("Fleuve 
            Congo") er produzierte. Und inzwischen arbeitet Benjamin schon 
            wieder an einem anderen Projekt: Ein Album mit Juliette Gréco, 
            der Legende des existenzialistischen Chansons. 
          © 
            Michael Frost, 20. April 2003