So
hat man sich die Entstehung von Björks Kompositionen immer
vorgestellt: Sie summt zum gleichmäßigen Rattern der
Eisenbahn, entwickelt daraus eine Melodie, dann kommt ein Text dazu,
ein punktgenaues Arrangement von Instrumenten und Computer-Samples
und fertig ist die Symphonie. Björk ist ein Vulkan. Nichts
an ihr ist berechnend, künstlich oder kommerziell, sie ist
eine Naturgewalt, ein unerklärbares Phänomen, ein Wunder
an Kreativität und eruptiver Schaffenskraft.
Lars
von Trier, mittlerweile neben Wim Wenders, Pedro Almodovar und Ken
Loach einer der ganz Großen der europäischen Filmszene
(„Breaking the waves“, „Geister“, „Idioten“) und Mitbegründer
der dänischen Dogma-Gruppe, hat das richtige Gespür gehabt,
als er Björk bat, die Musik für seinen Film DANCER IN
THE DARK zu schreiben, der seither nicht ganz zutreffend als „Musical“
gilt.
Björk
hat mit der Adaption von Jazz- und Musicalstücken des 20. Jahrhunderts
einige Erfahrung, von ihr existieren Neuaufnahmen etwa des Klassikers
„Gloomy Sunday“, von „I remember you“, am bekanntesten wurde aber
das auch als Single veröffentlichte „It’s oh so quiet“.
SELMASONGS,
so der Titel des Soundtracks zu DANCER IN THE DARK, ist ein ambitionierter
Versuch der Isländerin, ihren ur-eigenen Sound mit typischen
Elementen in der Tradition US-amerikanischer Film- und Musicalkomponisten
der 40er und 50er Jahre zu verbinden, und der Versuch ist mehr als
gelungen. Björk und VON TRIER entwickeln die einzelnen Stücke
jeweils aus der Filmhandlung, indem sie das beschriebene Rattern der
Eisenbahn oder das Zischen der Stanz-Maschine für den Grundrhythmus
benutzen und eine Melodie darüber legen. SELMASONGS ist kein
BJÖRK-Album in direkter Linie der Vorgänger "Debut",
"Post" oder "Homogenic" geworden, sondern beschreibt
einen eigenständigen Standard und belegt die einzigartige Vielfalt
dieser Ausnahmekünstlerin.
Aber:
VON TRIERs gutes Gespür, Björk um die Filmmusik zu bitten,
wird noch übertroffen von seiner Idee, sie auch als Hauptdarstellerin
für DANCER IN THE DARK zu engagieren. Dass es bei den Dreharbeiten
zwischen beiden zu unerträglichen Spannungen gekommen ist, hat
der Qualität des Films keinen Abbruch getan, sondern die Intensität
von Handlung und Darstellung weiter gesteigert.
DANCER
IN THE DARK lässt, trotz des spannenden Soundtracks, die Sängerin
Björk immer wieder zugunsten der Schauspielerin Björk vergessen.
Und das ist das eigentlich Überwältigende und Fesselnde
des Projekts: DANCER IN THE DARK wird in Erinnerung bleiben und mit
weiteren Preisen überhäuft werden nicht nur aufgrund der
Beteiligung eines Popstars an der Filmmusik, sondern aufgrund VON
TRIERs Filmkunst und der absoluten und einzigartigen schauspielerischen
Leistung Björks, die ihr nach der Goldenen Palme u.a. den isländischen
und den europäischen Filmpreis als beste weibliche Darstellerin
des Jahres einbrachten, der Kategorie, für die sie jetzt auch
für den Golden Globe nominiert ist - und selbst der Oscar gerät
jetzt in Reichweite. Wir drücken die Daumen.
MF
/ 23. September 2000
update 28. Dezember 2000