Schon 
            "Une vie de rien" verströmt die Einzigartigkeit des 
            klassischen französischen Chansons. Ein Klangteppich zum Wohlfühlen, 
            eine Stimme, männlich-markant und doch ohne jeden Anflug von 
            machismo, ein nicht minder markantes Gesicht, und ein Text zu tiefgründig 
            für Schlager, zu eingängig für den akademischen Diskurs. 
            Natürlich: Julien Clerc ist der Zeremonienmeister des Chansons, 
            er pointiert und variiert, voller Gefühl und doch bei vollem 
            Bewusstsein, wohl kalkuliert und dennoch von großer Emotionalität. 
            Die Franzosen lieben ihn dafür: Ganze zwei Wochen hat er das 
            Pariser Olympia gebucht: Zwischen dem 24. Januar und dem 05. Februar 
            2006 wird er dort jeden Abend auf der Bühne stehen.
          "Double 
            enfance" heißt sein neues Album, das dank des Interesses 
            für das französische Chanson in seiner neuen als auch in 
            seiner traditionellen Form auch in Deutschland veröffentlicht 
            wird. Der Titelsong (übersetzt: "Doppelte Kindheit") 
            steht für Clercs Erfahrung als Kind geschiedener Eltern: "Deux 
            maisons deux quartiers // deux gâteaux d'anniversaire // multiplier 
            les pères et mères // n'a pas que des mauvais côtés 
            ..." (Zwei Häuser, zwei Viertel // zwei Geburtstagstorten 
            // die Multiplizierung der Väter und Mütter // hat nicht 
            nur schlechte Seiten ..."). Eine besondere Tragik vermag 
            Clerc darin nicht erkennen, eher ein leises, verständnisvolles 
            Bedauern: "Nicht jedem ist die Chance zur ewigen Liebe gegeben". 
            
          Obwohl 
            nicht einer seiner Texte von ihm selbst stammt, ist Julien Clerc doch 
            immer ein ungemein authentisch wirkender Künstler gewesen. Er 
            verdankt dieses Attribut den Menschen, denen er seine Themen anvertrauen 
            konnte, damit sie ihm schließlich die Chansons passgenau auf 
            den Leib schneiderten. So wie Maxime le Forestier, selbst ein Großer 
            des Chansons, oder die junge Carla Bruni, die zwei Titel für 
            "Double enfance" schrieb, darunter den Opener "Une 
            vie de rien". Doch auf seinen engsten Vertrauten muss Clerc nun 
            verzichten: Etienne Roda Gil starb 2004 im Alter von 62 Jahren. Clerc 
            und Roda Gil galten als geniales Song-Autorenduo; die gemeinsam verfassten 
            Songs sind zahllos und ihr Einfluss auf die französische Musikszene 
            immens. "Double enfance", das Clerc seinem verstorbenen 
            Freund widmete, enthält immerhin noch zwei gemeinsam geschriebene 
            Titel: "Donne-moi de tes nouvelles" und "Réfugié", 
            ein engagiertes Chanson für die Aufnahme und Integration von 
            Flüchtlingen: "Le jour où chez nous tu seras chez 
            toi" ("Der Tag an dem du bei uns ganz bei dir sein kannst 
            ..."). 
          Clerc 
            und Roda Gil stehen für das klassische Chanson, wobei klassisch 
            keineswegs mit "altmodisch" verwechselt werden darf: es 
            handelt sich sehr wohl um Pop. Biolay, Boogaerts, Delerm und all die 
            anderen Vertreter der neuen Linie sind nicht die Antipoden zu Clerc, 
            sondern seine zeitgenössische Fortsetzung. Clerc ist deswegen 
            keineswegs hors saison, sondern vielmehr einer, dessen Musik 
            von zeitloser Gültigkeit ist - weil seine Themen, seine Erzählungen 
            und im übrigen auch seine Melodien und Arrangements zeitlos sind 
            und ihre Hörer dazu einladen, sich gleichfalls aus den Zwängen 
            verordneter Modernität zu befreien. 
          Auch 
            hier hat Clerc jemanden gefunden, der diesen Anspruch perfekt in Worte 
            umzusetzen weiß. Es ist Carla Bruni, die dieses Lebensgefühl 
            in ihrem Text zu "Rester" ("Bleiben") perfekt 
            einzufangen weiß: 
          
            "Rester 
              encore un peu
              le 
              nez dans tes cheveux
              rester dans ton sourir 
              oublier de partir" 
          
          ("Noch 
            eine Weile bleiben // die Nase in deinen Haaren // In deinem Lächlen 
            bleiben // vergessen aufzubrechen ...).
          © 
            Michael Frost, 28.09.2005