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Zwischen Erstaunen
und Euphorie


Es gibt Alben, die muss man erobern. Sperrige Werke, die sich erst nach x-fachem Hören erschließen lassen. Und solche, die den Zuhörer sofort in ihren Bann ziehen. Manchmal reicht sogar nur ein kleiner Ausschnitt, ein Appetizer. Den lieferte in diesem Fall das 3sat-Magazin "Kulturzeit" anlässlich einer kurzen Konzertankündigung. Zu hören: Piano, Bass und Drums, rau und kantig, elektrisierend - und eine männliche Stimme, so ungehobelt, porös und aufwühlend, so direkt und unter die Haut gehend, wie man es nur selten erlebt.

Die Stimme gehört Enik, einem Münchener, der in der Club-Szene kein Unbekannter ist - für Jazz-Fans hingegen schon. Das Electronica-Duo Funkstörung holte ihn für die Aufnahme seines 2004 veröffentlichten Albums "Disconnected" ins Studio. Zwei Jahre darauf legte Enik sein erstes Soloalbum vor ("The space in between"), eine ungezähmte Standortverweigerung zwischen Pop, Electro, Songwriting und Crossover (vgl. CD-Kritik vom 25.02.06).

Nun wurde er von drei geradezu unverschämt jungen Jazz-Musikern eingeladen, auf fünf Stücken ihres gemeinsamen Debütalbums zu singen: Pianist und Trio-Namensgeber Chris Gall (33), Schlagzeuger Peter Gall (25) und Marcel Krömker (27). Als "Chris Gall Trio feat. Enik" veröffentlichten sie "Climbing up" in der Reihe "Young German Jazz" des renommierten Jazz-Labels ACT - und gäbe es diese Reihe nicht, man hätte sie spätestens für das Chris Gall Trio erfinden müssen.

Schon bezeichnen Kritiker das Album als "Attacke der Jazzwelt auf den Popkosmos" (kulturkurier). Tatsächlich wollen sich weder Gall noch Enik auf ein Genre festlegen lassen. Ruppigkeit, Tempo und Intensität der Pianoläufe Chris Galls, der am Berklee College of Music ausgebildet wurde, scheinen sich gelegentlich am Spiel von Rockgitarristen zu orientieren, während die gegenläufigen Drums (Peter Gall) an die Sample-Technik von Triphop-Bands erinnern. Der Bass wiederum (Marcel Krömker) führt ein Eigenleben voller Dynamik und wirkt im Zusammenspiel mit den anderen Instrumenten wie sonst die Drums&Bass-Clubsounds.

So spürt man die Neugier der Musiker an der Grenzüberschreitung. Sie öffnen sich der Pop-Avantgarde, ohne ihre Herkunft zu verraten oder aufzugeben. Ihr Spiel strotzt vor Kraft und unberechenbaren Einfällen, ist dabei von hitzigem Tempo, es ist unverkennbar, dass die drei Musiker auf diese Chance nicht nur lange gewartet, sondern konsequent auf sie hingearbeitet haben; und nun endlich dürfen sie den Dampf aus dem Kessel lassen.

Durch die für ein Jazz-Album extrem ungewöhnliche, gleichzeitig aber ungemein stimmige Mischung zwischen Instrumental- und Gesangsstücken kann das Chris Gall Trio seine Ausdrucksmöglichkeiten zwischen ruhigeren Instrumentalpassagen und aufwühlenden Songs wie "21st Century Jesus" oder dem rasanten "Everybody knows but me" vervielfachen. Nun stehen sie gleichberechtigt neben-, besser: miteinander und ergeben zwischen "pre.lude" und "post.lude" eine klangliche Einheit, die Jazz-Puristen erstaunt und Freunde experimenteller Pop-Musik euphorisch werden lässt.

Enik ist dabei der kongeniale Partner, um den sie andere Trios beneiden werden, denn erst sein heiserer Gesang macht "Climbing up" zu der herausragenden Veröffentlichung dieses Frühjahrs. Esbjörn Svensson jedenfalls, der mit seinem Trio bislang eine Art Monopol auf eine ungleich gefälligere Jazzpop-Melange besaß, wird sich "Climbing Up" ganz genau anhören. Aber vielleicht überzeugt auch ihn schon ein kleiner Appetizer.

© Michael Frost, 24.03.2008

 


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