Das
Klirren der Gläser, scheppernde Teller - die typische Geräuschkulisse
im Pariser Nobel-Chinarestaurant Tse verstummt schnell, als Keren Ann
die kleine Bühne betritt, zur Klarinette greift und ihr Publikum
mit einem die spärliche Beleuchtung aufhellenden Lächeln begrüßt.
"On est loin" heißt der erste Titel ihres Auftritts,
zu sehen und zu hören auf der ihrem aktuellen Album "La disparition"
in limitierter Auflage beigelegten DVD.
"Loin
du paradis, de l'enfer, loin du pacifique, de nos rêves ...",
singt sie, weit entfernt vom Paradies, von der Hölle, weit
entfernt vom Pazifik, von unseren Träumen ..." - es
ist eine Ballade über die Sehnsucht nach dem Unerreichbaren.
Doch
für Keren Ann Zeidel, Tochter eines Israeli und einer Holländerin,
die aber seit ihrer Jugend in Frankreich lebt, sind die Träume
längst nicht mehr unerreichbar. Beständig ist sie ihnen
in den vergangenen Jahren näher gekommen, nicht zuletzt, seitdem
sie 1998 Benjamin Biolay begegnete. In dem jungen Musiker fand Keren
Ann ihre kongeniale Entsprechung, der mit ihr die Lieder ihres ersten
Albums schrieb und aufnahm: "La biographie de Luka Philipsen"
- "Philipsen" nach dem Familiennamen ihrer Großmutter,
"Luka" nach dem gleichnamigen Lied der von ihr verehrten
Suzanne Vega, für die sie inzwischen das Vorprogramm ihrer Frankreich-Konzerte
bestritt, auch dies vielleicht die Erfüllung eines Traums.
"La
biographie de Luka Philipsen" war der erste Schritt für
den großen Durchbruch, der Keren Ann und Benjamin Biolay mit
ihrer Koproduktion für die Chanson-Legende Henri Salvador gelang.
Für dessen Album "Chambre avec vue" hatte das Gespann
Zeidel/Biolay einige Titel beigesteuert, die dem Senior ein beachtliches
Comeback bescherten. Auch an Biolay sensationellem Solo-Debüt
"Rose Kennedy" war Keren Ann beteiligt.
Keren
Ann gehört also zu den wichtigsten Talenten der Nouvelle Scène.
Folgerichtig ist auch sie mit einem Titel auf der jüngst in Deutschland
erschienenen "Le Pop"-Compilation vertreten, doch ihre eigenen
Alben sind immer noch nur als Import zu haben.
Dabei
ist "La Disparition" ein wunderschönes Album, das sie
wiederum gemeinsam mit Benjamin Biolay produzierte. Es ist vollgepackt
mit unprätenziösen Kleinoden zeitlosen Songwritings und
leisen Jazz-Anleihen, bestechend in ihrer schnörkellosen Eleganz,
dem ungekünstelten Gesang Keren Anns und der klaren Poesie ihrer
Sprache. Nur selten werden elektronische Mittel eingesetzt wie bei
"La corde et les chaussons", wo mit Vocoder und Samples
gearbeitet wurde.
Es bleiben die einzigen Hinweise auf die zeitliche Verortung der Musik
von Keren Ann, für die ansonsten vor allem dieses Attribut passt:
Zeitlosigkeit. Es sind Lieder, die sich dem Hier und Jetzt auf sanfte
Weise zu entziehen scheinen.
Die
erwähnte DVD mit dem charmanten Konzertmitschnitt beinhaltet
auch einen Gastauftritt von Benjamin Biolay. Gemeinsam singen er und
Keren Ann ihre anrührend schöne Ballade "Les rivières
de janvier". "Restons ici" (Bleiben wir hier),
heißt es in dem Stück, das tatsächlich dahinfließt
wie die Flüsse im Januar:
"Bleiben
wir hier,
das Wasser ist blau,
dunkelblau,
du schläfst ein,
ich tue nichts, ich denke nur
an die Flüsse des Januar ..."
©
Michael Frost, 7. Dezember 2002