Als 
            im Frühjahr 2002 die Compilation "Die fabelhafte Welt des 
            Chansons" erschien, war die Hoffnung groß, darauf würden 
            endlich einmal aktuelle und unbekannte Künstler der jungen französischen 
            Pop- und Chansonszene vorgestellt, die im Gefolge des "Amélie"-Soundtrack-Komponisten 
            Yann Tiersen von dem erwachenden Interesse an französischer Musik 
            profitieren könnten. Leider wurde daraus nichts, denn der Sampler 
            versammelte vor allem die klassischen Chanson-Heroen von Jacques Brel 
            über Maurice Chevalier bis Edith Piaf. Schön, aber nicht 
            neu: "Französisch für Einsteiger". 
          Das 
            Loch wird jetzt geschlossen, es gibt den Kurs für Fortgeschrittene. 
            Mit Unterstützung des "Bureau de la Musique Française" 
            hat das Label "Melting Pot Music" eine in jeder Hinsicht 
            herausragende Compilation veröffentlicht, die sich exakt auf 
            die Suche nach jungen französischen Musikerinnen und und Musikern 
            begibt, die einen neuen Weg zwischen Pop, Chanson und Electronica 
            eingeschlagen haben. Das Ergebnis heißt schlicht "Le Pop", 
            im Untertitel "Die Chansons der nouvelle scène française".
          Und 
            tatsächlich ist es keineswegs übertrieben, von einer ganzen 
            "Szene" zu sprechen. Hört man die auf "Le Pop" 
            versammelten sechzehn Titel, dann drängt sich der Eindruck geradezu 
            auf, dass sich in ganz Frankreich kreative Nachwuchsstars in die Studios 
            begeben haben, um ihre Ideen lustvoll und selbstbewusst umzusetzen. 
            
          Interessanterweise 
            scheint sich die "Nouvelle Scène" in Frankreich dezentral 
            zu organisieren. Überraschend viele der Künstlerinnen und 
            Künstler, die auf "Le Pop" vorgestellt werden, stammen 
            nämlich nicht aus Paris und entwickeln dort auch nicht ihre Musik. 
            Möglicherweise lässt sich also gerade in der Provinz ein 
            individueller Stil entwickeln, frei von den in der Hauptstadt gerade 
            aktuellen Strömungen und Richtungen. 
          Darunter 
            sind Musiker wie der großartige Chanson-Poet Benjamin Biolay 
            (seit seiner Heirat mit Chiara Mastroanni übrigens der Schwiegersohn 
            der Schauspieler-Legenden Marcello Mastroanni und Cathérine 
            Deneuve), Jérome Minière mit experimentellen Breakbeats 
            oder (Philippe) Katerine, der seine Chanson-Versionen mit Downbeat 
            und den Agentenfilm-Kulissen des Triphop mischt.
            Mathieu 
            Boogaerts setzt auf eine luftigen Mischung aus afrikanisch inspirierten 
            Grooves und minimalistischem Synthie-Pop, wie ihn auch Dominique A. 
            vorstellt. 
          Dessen 
            Beitrag "Le courage des oiseaux" (Der Mut der Vögel) 
            ist bereits zehn Jahre alt und gilt als eine der wichtigsten Initialzündungen 
            der Nouvelle Scène. Dominique A. schreibt auch Titel für 
            andere, z.B. für Yann Tiersen und Françoiz Breut, die 
            beide ebenfalls auf "Le Pop" vertreten sind: Tiersen mit 
            "L'echec" von seinem auch in Deutschland sehr erfolgreichen 
            Album "L'Absente", Françoiz Breut mit "Si tu 
            disais", einem wunderschönen Titel mit ausladenden Streicherarrangements 
            und einem herrlich treibenden Grundrhythmus. 
          Überhaupt 
            scheinen die Stars der Nouvelle Scène eng miteinander verwoben 
            zu sein: Das Video zu Mathieu Boogaerts' Single "Ondulé", 
            auf "Le Pop" als Opener ins rechte Licht gerückt, drehte 
            Emile Chédid, die Schwester von Mathieu Chédid alias 
            "M.", der ebenfalls mit einem Stück auf "Le Pop" 
            vertreten ist. 
          Der 
            bereits erwähnte Benjamin Biolay dagegen schreibt auch die Texte 
            für Keren Ann - selbstredend ist auch sie auf "Le Pop" 
            zu hören. Biolay, der Serge Gainsbourg, Charles Trenet und Henri 
            Salvador als seine großen Idole nennt, belässt es allerdings 
            längst nicht mehr bei der Bewunderung aus dem Off: Mit Keren 
            Ann schrieb er Henri Salvador mehrere Stücke seines 2000er Albums 
            "Chambre avec vue" auf den Leib, u.a. den Titelsong und 
            den französische Singlecharts-Erfolg "Jardin d'hiver", 
            dem der inzwischen 85-jährige Salvodor nicht weniger als einen 
            zweiten Karrierefrühling verdankt. 
          Wie 
            auch Keren Ann mag Françoiz Breut an dieser Stelle beispielhaft 
            für eine Generation junger französischer Sängerinnen 
            stehen, die auf dem besten Wege sind, aus dem Schatten ihrer Vorbilder 
            aus dem klassischen Chanson herauszutreten. Zu dieser Gruppe gehören 
            auch Clarika oder Natacha Terone, die sich musikalisch unterscheiden, 
            aber stimmlich über diesen prickelnden unter die Haut gehenden 
            Gänsehautfaktor verfügen, der schon den besonderen Reiz 
            einer Françoise Hardy, Jane Birkin oder jüngst Enzo Enzo 
            ausmachte.
          So 
            könnte man also noch lange, für Kritiker eigentlich unüblich, 
            völlig kritiklos weiter schwelgen, und natürlich wäre 
            auch der Korse Bertrand Burgalat absolut erwähnenswert, oder 
            der Elsässer Toog, schließlich Thierry Stremler, der bereits 
            als der "neue Jacques Dutronc" gehandelt wird, oder "Autour 
            de Lucie", die einzige Band in der ansonsten aus Solo-Künstler/innen 
            bestehenden Nouvelle Scène:
          Aber 
            wir wollen jetzt niemanden mehr vom fälligen Gang in den nächsten 
            Plattenladen abhalten. Einfach merken: "Le Pop !"
          Michael 
            Frost, 21. September 2002