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Freiheit oder
Herri Kopter


"Selling time // selling happiness // selling power // selling water ...". Alles ist (ver)käuflich. "If you don't buy you die" lautet das Credo, vorgetragen mit sanft säuselnder Frauenstimme (Myléna Bergeron) und flirrenden Discobeats. Jérôme Minière, einer der kreativen Köpfen der aktuellen französischen Szene mit Wohnsitz in Kanada, neigt auf seinem neuen Album zum beißenden Sarkasmus.

Gleich zu Beginn spricht er die Warnung aus: Das Album enthält "marketing explicite". Und wo dieses versagt, wird zu unterschwelligen Mitteln der Manipulation gegriffen: mit einem imaginären Pendel wird der Zuhörer in Hypnose versetzt. "Folgen Sie mit den Augen dem imaginären Pendel ... rechts, links, rechts, links ..." ("Italien sous hypnose").

Jérôme Minière hat sich bei der Ausgestaltung dieses Albums im Fundus des Turbokapitalismus bedient. "Herri Kopter", sein Alter Ego aus früheren Zeiten, ist der Name einer Firma, die Songs fungieren als Portfolio ihrer Produktpalette, und das Begleitheft zur CD wurde kurzerhand zum Firmenhandbuch umfunktioniert. "Der Kunde ist unser Gott", steht darauf, kurz und prägnant, und die gesamte Verlogenheit postindustrieller Dienstleistungsmetaphorik nimmt ihren Lauf.

Die imaginären Produkte der Herri Kopter AG reichen von den besten Freunden ("mes meilleurs amis sont les meilleurs produits dans leur catégorie") bis zu Jesus Christus. Der hat sein Geld an der Börse verdient, lässt es dort für sich arbeiten und versteckt sich ansonsten - wo sonst! - in den Vereinigten Staaten. Seine Vergangenheit habe er durchkreuzt (!), lässt Minière den Erlöser unbekümmert plaudern, doch die Zukunft bringe ihm astronomische Summen.

Am Ende des Albums werden dann noch die aktuellen Kurse abgeglichen. Nicht die Börsenkurse, sondern der individuelle Stand der Dinge. Alles muss schließlich erfasst werden: Liebe: 2,0 - Selbstvertrauen: 0,6 - Sicherheit sogar: 2,2 - doch sozialer Druck 27,09 und individuelle Freiheit -12,7. Man muss eben Prioritäten setzen, würde Herri Kopter sagen, und entsprechend wurden die Pressetermine zum Album-Release in Kanada als Job-Interviews gestaltet, "bei denen den Anwesenden Bewerbungsunterlagen für eine Stelle bei Herri Kopter ausgehändigt wurden" (Pressetext). Komm auch du, so die Botschaft, und man fröstelt, als wären die grauen Herren aus Michael Endes "Momo" zu Besuch.

Den einzigen Ausbruch aus dem Firmenkonzept gestattet Minière Lhasa. Die kanadisch-mexikanische Sängerin mit der markant-heiseren Stimme darf in "Un magasin qui n'existe pas" der Sehnsucht nachhängen, dass die Vögel in Schwärmen gen Süden ziehen, "und das kostet nichts".

"Jérôme Minière chez Herri Kopter" ist ein überzeugendes und pointiertes Konzeptalbum, an dem man richtig Spaß haben könnte, wenn einem das Lachen nicht immer wieder im Hals stecken bleiben würde. Denn im Gegensatz zu den Produkten der Firma "Herri Kopter" ist das Thema des Albums überhaupt nicht imaginär, sondern hat unsere Wirklichkeit derart durchdrungen, dass wir es im Alltag kaum noch wahrnehmen. Sichtbar wird die Realität erst in der Überzeichnung, und ab hier haben wir wieder die Wahl.

Minìeres Landsmann Jean-Paul Sarte, der in diesen Tagen seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, wies unermüdlich darauf hin, dass der Mensch zur Freiheit verdammt sei. Daran sollte man sich erinnern, denn alternativ winkt nur ein Job bei Herri Kopter. Minière hat seinem "Firmenhandbuch" schon ein zynisches Einstellungsformular beigelegt. Man muss nur noch den persönlichen Index eintragen, für Selbstvertrauen, Poesie, "relative Schönheit" - und die Zahl der Toilettengänge ...

© Michael Frost, 18. Juni 2005


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