Noir 
          Désir sind seit über zwanzig Jahren im Rockgeschäft. 
          Sie sind dabei eine der ganz wenigen französischen Bands, die sich 
          nicht nur im eigenen Land, sondern auch international etablieren konnten. 
          Und im Gegensatz zu vielen Legenden, die heute noch als Schatten ihrer 
          selbst durch die Lande ziehen, ist es ihnen gelungen, sich ihre Neugier 
          zu bewahren, den Spaß an der Musik und die Freude an künstlerischen 
          Experimenten. Das Quartett (Bertrand Cantat, Denis Barthe, Jean-Paul 
          Roy, Serge Teyssot Gay) hat sich nicht verbrauchen lassen.  
          Einen 
            Beweis ihrer kompromisslosen Aktivität lieferten sie im März 
            2002 bei einer Gala, als sie für ihre CD "Des visages des 
            figures" (die nun endlich auch in Deutschland erschien) den französischen 
            Schallplattenpreis für das "Rock-Album des Jahres" 
            sowie für den besten Video-Clip (für die Single-Auskopplung 
            "Le vent nous portera" erhielten. In ihrer Dankesrede bezichtigte 
            die Band mit deutlichen Worten den Vivendi-Konzern, zu dem auch ihre 
            französische Plattenfirma gehört, der einseitigen Ausrichtung 
            nach kommerziellen Kriterien. Bands wie Noir Desir hätten nur 
            noch eine Alibi-Funktion, so die Einschätzung der Band über 
            die eigene Rolle.
          Schon 
            auf dem Album selbst hatten sie Vivendi mit Sarkasmus überschüttet 
            und mit spitzer Zunge kurzerhand zu einem der ehemals vier Elemente 
            erklärt: "Il y a là l'eau, le feu, le computer, Vivendi 
            et la terre ..." (Dort gibt es das Wasser, das Feuer, den 
            Computer, Vivendi und die Erde ...)
          Noir 
            Desir lieben die klare Sprache. Ihr Album-Cover, eine Art Höhlenmalerei 
            der Informationsgesellschaft, das die Menschen mit Headset und blendend 
            weißen Zähnen zeigt, während gleichzeitig jeder jeden 
            mit einer Waffe bedroht, ist an Deutlichkeit kaum zu überbieten. 
            
          Auch 
            als bei den Präsidentschaftswahlen im April 2002 plötzlich 
            der Kandidat der extremen Rechten als Zweitplatzierter in die Stichwahl 
            ging, waren Noir Desir gemeinsam mit Les Têtes Raides, Yann 
            Tiersen, Dominique A. und anderen zur Stelle und formierten vor dem 
            2. Wahlgang mit vier spontanen Konzerten den Künstlerprotest 
            "gegen den Rassismus und den Hass". 
          Ein 
            zentrales Thema auf "Des visages des figures" spielt Europa. 
            Satte dreiundzwanzig Minuten dauert das gleichnamige Stück ("L'Europe"), 
            an dessen Text (im Booklet füllt er drei eng bedruckte Seiten) 
            auch Brigitte Fontaine beteiligt ist. Vor einem grell bunten Klangteppich, 
            dessen einzelne Komponenten bei der Vielzahl ineinander gewobener 
            Beats und Rhythmen kaum mehr zu rekonstruieren sind, breiten Noir 
            Desir die Geschichte des Kontinents und seiner geplagten Bewohner 
            aus, der Kriege überdrüssig, doch geduldig im Ertragen fortdauernder 
            Ungerechtigkeiten und erbarmungslos in der Abgrenzung von den Nachbarn: 
            "À quelle hauteur vas-tu ériger tes remparts ?" 
            (Bis zu welcher Höhe wirst du deine Schutzwälle aufrichten 
            ?) und, nochmals eindringlicher und deutlicher die Warnung vor 
            der Verantwortung des Westens für islamistischen Fundamentalismus: 
            "Le jour d'Occident est la nuit de l'Orient." (Der Tag 
            im Westen ist die Nacht im Orient.)
          Für 
            Noir Désir ist die politische Stellungnahme fester Bestandteil 
            ihrer Alben. "Weltmusik" ist für sie kleine Floskel, 
            kein Element konservierter Folklore, sondern gelebter Alltag, ein 
            Thema, dem sie sich auch als Band verpflichtet fühlt. Folgerichtig 
            gastierten sie jüngst in Syrien, Jemen, Libanon und der Türkei.
          Ihr 
            Interesse für Brücken bauende Sounds teilen sie dabei mit 
            einem anderen prominenten Franzosen: Manu Chao. Er ist als Gitarrist 
            auf der latino-inspirierten Single-Auskopplung "Le vent nous 
            portera" dabei, einem herrlich beschwingten, in Musik umgesetztes 
            Road-Movie, nicht der einzige mitreißende Rhythmus auf "Des 
            visages - des figures".
          © 
            Michael Frost, 26. Oktober 2002
          Nachtrag: 
            Plötzlich erscheint alles in einem anderen Licht, und Wolken 
            trüben die vermeintliche Integrität von Noir Desir. Sänger 
            Bertrand Cantat wure verurteilt, für den Tod seiner Partnerin, 
            der Sängerin und Schauspielerin Marie Trintignant, verantwortlich 
            zu sein. Unser Mitgefühl gilt ihrer Familie und allen, die sie 
            liebten.