Hunderte
Chansons stammen aus seiner Feder, zahllos sind seine Erfolge, die er
sich und anderen auf den Leib schrieb: Henri Salvador ist eine Legende
des Chansons, und es gibt praktisch keine musikalische Größe
des vergangenen Jahrhunderts, mit der er nicht zusammen gearbeitet hatte.
Im Jahr 2000 suchte er, bereits 83-jährig, dann nochmals den Anschluss
an die Gegenwart. Dabei traf er auf Thomas Dutronc (Sohn von Jacques
Dutronc und Francoise Hardy) und das junge Songwriter-Duo Keren Ann
Zeidel und Benjamin Biolay, die ihm eine Handvoll überwältigend
schöner Latin-Chansons für ein neues Album dichteten ("Chambre
avec vue").
Die
CD bescherte ihm einen weiteren Karrierefrühling, der ihn nun
- als Verwirklichung eines langgehegten Traums - dorthin führte,
wo seiner Meinung nach "die beste Musik der Welt" zuhause
ist: nach Brasilien.
Salvador,
der selbst lateinamerikanischen Ursprungs ist (er wuchs in Französisch-Guyana
auf), versammelte in Rio de Janeiro einige der erlesensten Musiker
des Landes um sich, und gegenseitig erwiesen sich die Grandseigneurs
aus Chanson, Tropicalia und Bossanova ihre "Révérence":
Paulo Braga (Schlagzeuger von Antonio Carlos Jobim), Keyboarder Joao
Donato und die Bossanova-Legenden Caetano Veloso und Gilberto Gil,
der inzwischen sogar Kulturminister Brasiliens ist. Beide Sänger
sind auf "Révérence" mit Salvador im Duett
zu hören; Veloso singt mit ihm das einst für Marlene Dietrich
geschriebene "Cherche la rose", und Gil heftete ihm vor
Aufnahmebeginn für "Tu sais je vais t'aimer" den Ehrenorden
Brasiliens an.
Die
meisten Titel stammen von Salvador selbst, und gleich, ob es sich
dabei um einen seiner Klassiker oder eine neue Kompositionen handelt,
"Révérence" entführt den Zuhörer
weit in die Vergangenheit; die Zeit, in der die Männer noch Hüte
trugen, die Zeit großer Revuen und Radiokonzerte, die Kinderjahre
des Fernsehens, als es noch selbstverständlich war, dass ein
Conférencier ein Vollblutentertainer war, und nicht ein wie
geklont wirkendes Retortensternchen.
Wohl
mehr als nur ein wenig trauert Henri Salvador, der in seinen nunmehr
88 Lebensjahren praktisch alle Stationen auf dem Weg zur heutigen
Mediengesellschaft durchlaufen hat, den "alten Zeiten" hinterher.
Doch er verfügt noch immer über genügend Souveränität,
den nostalgischen Ton des Albums nie in sentimentalen Kitsch abgleiten
zu lassen, und die wiederum grandiosen Orchesterarrangements von Jacques
Morelenbaum tun ein Übriges, den Erinnerungen Salvadors an seine
großen Jahre einen Hauch von Würde und Eleganz zu verleihen,
den man wohl tatsächlich erst mit einer gewissen Lebenserfahrung
glaubhaft verkörpern kann.
©
Michael Frost, 07.11.2006