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Lieder von
unter dem Tisch


Die eine Hälfte des Jahres herrscht bestenfalls Dämmerlicht, ansonsten absolute Dunkelheit. Umso heller und leuchtender ist dagegen die zweite Hälfte des Jahres in Saltdal, einem kleinen Ort in Nord-Norwegen, den die von dort stammenden Mitglieder der Band Schtimm als "Twin Peakish" charakterisieren. Inzwischen leben die Geschwister Erling (Gesang, Gitarre, Bass und Ukulele), Kåre (Tasten) und Bjørg (Gesang, Percussion) mit Familienfreund Peder (Schlagzeug) in Trondheim - auch nicht eben eine Metropole - und basteln dort an ihrem verträumten Sound zwischen hellen Sommernächten und dunklen Wintertagen.

Schüchtern, verhuscht, intim sind ihre Lieder - manchmal in bester Easy Listening-Tradition ("Somwheregone"), gleich darauf wieder introspektiv und melancholisch ("Red Dog Spiral"). Mit ihrem zweiten Album "Schtimm plays Mrakoslav Vragosh" bilden sie gemeinsam mit Bands wie The White Birch und Ai Phoenix die düstere Seite der "Quiet is the new Loud"-Bewegung. Sie selbst beschreiben ihre Musik als minimalistischen "Dunkelpop" mit Jazz-Einflüssen.

Und mit Humor. Denn wer ist eigentlich dieser Mrakoslav Vragosh, der im Albumtitel und als Autor sämtlicher Songs auftaucht ? Schtimm behaupten vage, ihnen seien durch Zufall einige Kassetten des Künstlers in die Hände gefallen, die allerdings sehr schlechter Tonqualität gewesen seien. Vragosh sei offenbar ein Vertreter des russischen Underground gewesen, und seine Musik sei um die dreißig Jahre alt. Entsprechend notiert das Booklet vermeintliche Entstehungsdaten der "Original"-Versionen zwischen 1968 und 1976. Zitat:"Taken from the Album: 'Songs from under the Table'".

Band-Mitglied Erling, der an der Trondheimer Universität Literaturwissenschaften studierte, will einen sprachkundigen Literatur-Professor um die Übersetzung der russischen Texte gebeten haben. Doch weder der noch seine zu Rate gezogenen Kollegen hatten jemals zuvor von einem singenden Untergrundpoeten namens Mrakoslav Vragosh gehört. Und auch das norwegische Fernsehen, das den Importbuchhandel sowie russische und internationale Internet-Suchmaschinen auf die Jagd nach Vragosh schickte, wurde nicht fündig. Statt dessen hilft der Übersetzungsdienst: "Mrak" bedeutet so viel wie "Dunkelheit" - und "Vrag" ist das Andere, der Gegner - vielleicht im eigenen Inneren.

Also spricht vieles dafür, dass es den obskuren russischen Dichter überhaupt nicht gibt, sondern der Name lediglich als abenteuerliche Umschreibung der Musik von Schtimm dient. Aber es ist eine schöne Geschichte, und fast möchte man Sängerin Bjørg glauben, wenn sie mit dem Ausdruck aufrichtigen Bedauerns erklärt, man habe leider ergebnislos versucht, Mrakoslav Vragosh ausfindig zu machen, um sich bei ihm für die wundervollen Lieder zu bedanken.

Halten wir also das Andenken an Mrakoslav Vragosh auf diesem Wege in Ehren und freuen wir uns mit Schtimm über seine Sammlung anrührender Melodien und bizarrer Poesie. Und trotzdem wünschen wir dem "Dunkelpop"-Quartett aus Saltdal, dass er niemals auftaucht. Dann würden nämlich plötzlich Tantiemen fällig.

© Michael Frost, 12. Juli 2003

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The White Birch, Ai Phoenix, Kings of Convenience, Sigur Rós

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