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Vertontes Selbst


Manchmal erscheint es etwas zu einfach, die Musik einer Band vor dem Hintergrund der Landschaft ihrer Heimat zu erklären. Wie denn klingt nämlich ein Geysir, eine schroffe Felsenküste, ewig frischer Wind, ein tosender Ozean, am Himmel in schnellem Wechsel vorüberziehende Wolkenfelder ? - Nun, wahrscheinlich ein wenig wie Sigur Rós, einem Musikexport aus Island, dessen Brillianz sich längst international herumgesprochen hat.

In früheren Interviews erleichterten Sigur Rós die Interpretation ihrer Musik, da sie sich selbst zur klanglichen Landschaftsmalerei bekannten: Gewissermaßen haben sie auf ihren ersten Alben Island vertont.

Zwar liegt die nordatlantische Insel seit den Sugarcubes und Björk im Trend, dennoch ist es einigermaßen erstaunlich und nicht allein unter dem Gesichtspunkt der Mode erklärbar, dass nur ein Album wie "Ágætis Byrjun" reichte, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf Sigur Rós zu lenken. Vielmehr scheint die Musik in den Köpfen und Herzen der Zuhörer etwas auszulösen, das über die ursprüngliche Komposition weit hinausgeht.

"Ágætis Byrjun" wurde als Meisterwerk gefeiert, bescherte der Band europaweite Beachtung und sogar in den USA lukrative Plattenvertragsangebote. Nunmehr folgt, heiß ersehnt, das dritte Album, bzw. Nummer 4, wenn man das Remix-Album "Von Brigdi" mit einrechnet.

Obwohl Sigur Rós fast in klassischer Rockbesetzung mit Gitarren, Bass, Keyboard und Schlagzeug antreten, ist ihre Musik alles andere als konventionell. Gemeinsam vertonen die vier Bandmitglieder Jón Por (Jónsi) Birgisson, Kjartan (Kjarri) Sveinsson, Orri Páll Dýrason und Georg (Goggi) Holm die spröde Insellandschaft, oft in Titeln, die an die zehn Minuten dauern, bevor sie fast nahtlos in das nächste Stück überzugehen scheinen.

Sphärische Klänge, Melodien von unendlicher Weite, prickelnde Streichersätze, eingeschobene Klangfetzen kaum definierbarer Herkunft, wie vom Wind herbei- und wieder fortgeweht, schließlich die geheimnisvolle Erotik der Stimme Jón Birgissons, die lautmalerische Sprache (Sigur Rós singen neben Englisch und Isländisch vor allem "Hopelandic", eine von ihnen selbst erfundene Sprache), die es Jonsi ermöglicht, seine Worte mit der Musik zu verschmelzen und die düstere Spannung noch zu verstärken.

All diese Zutaten erzeugen im Kopf des Hörers eine wahre Bilderflut, die je nach individueller Stimmung und Ausgangslage völlig andere Farben haben kann - und nicht zwangsläufig und immer mit Island assoziiert werden muss.

Dem dänischen Magazin "Gaffa" sagte Kjartan: "Nach Ágætis Byrjun schrieben uns die Leute und erzählten uns ihre Gedanken, wovon die einzelnen Stücke handelten. Sie konnten die Texte nicht verstehen, da sie meist auf Isländisch gesungen waren. Die Leute kamen zu unterschiedlichsten Ideen, obwohl es dasselbe Lied war !" (Gaffa 11/2002)

Um den Gedanken der Zuhörer diesmal völlig freien Lauf zu lassen, blieben die einzelnen Stücke namenlos. Selbst wurde der Titel des neuen Albums durch zwei Klammern ersetzt, deren Zwischenraum von den Hörern selbst zu füllen ist. Es heißt also ( ).

"Die Lieder haben weder Texte noch Titel, weil wir fühlten, das würde die Dinge verkomplizieren", sagt Kjartan. "Es geschah einfach."

Und so ist auch das Begleitheft zur CD leer. Dort kann jetzt jeder seine eigenen Gedanken hineinschreiben oder malen, oder sie der Band direkt mitteilen. Auf ihrer Website wurde dafür eigens eine Rubrik eingerichtet. (Auf CD-Kritik.de übrigens auch !)

Und wenn man der Musik erlaubt, ins eigene Innere einzudringen, dann geschieht es einem vielleicht wie dem jungen Israeli, von dem Drummer Orri den dänischen Reportern erzählte.

Der hatte nämlich gerade den Einberufungsbefehl für das israelische Militär bekommen, als er zum ersten Mal "Ágætis Byrjun" hörte und daraufhin spontan beschloss, den Militärdienst zu verweigern.

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© Michael Frost, 09.11.2002

 

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