Immer, 
            wenn es an dieser Stelle eine Gruppe oder einen Solokünstler 
            aus Sizilien vorzustellen galt, fiel der Begriff der "Mittelmeerkultur". 
            Es muss wohl etwas daran sein, dass sich nirgendwo sonst die verschiedenen 
            Anrainer des Mittelmeeres so häufig, so ausdauernd und nachhaltig 
            begegnet sind wie auf der süditalienischen Insel. Araber, Griechen, 
            Spanier, Afrikaner, Türken, Italiener, Juden und Franzosen machten 
            hier Halt und hinterließen Spuren, die noch heute weithin sicht- 
            und hörbar sind. Und keineswegs ist Siziliens multi-ethnische 
            Geschichte Vergangenheit: heute gilt die Südspitze der Insel 
            afrikanischen Armutsflüchtlingen als Kap der guten Hoffnung. 
            
          So 
            ist der Sound des sizilianischen Quintetts "Unnaddarè" 
            keine wirkliche Überraschung, sondern fast schon tipico siciliano: 
            beschwörender Chorgesang, rhythmische Percussions, orientalische 
            Harmonien und Instrumente aus allen Himmelsrichtungen: Gitarre, Schlagzeug, 
            Bass, Oud, Saz, Didgeridoo, Tablas, Geige, Sitar, Bodhran (eine persische 
            Trommel) - und selbstredend marranzanu, die Maultrommel, ohne 
            die in der süditalienischen Musik von Neapel bis Palermo gar 
            nichts geht. 
          Im 
            Falle ihres Debütalbums "Kalsa" (nach einem Stadtteil 
            Palermos zu Zeiten der arabischen Herrschaft) kommt noch eine starke 
            Abteilung programmierter und gesampelter Elemente hinzu, und so verschmelzen 
            Zeiten und Epochen, Tradition und Moderne:
          Maurizio 
            Catania, Gianluca Ferrante, Gabriele Caporuscio, Valentina D'Accardi 
            und Giulio Caneponi sowie drei weitere Musiker (bei Konzerten kommt 
            noch Videokünstler Phella dazu) entwickeln aus ihren Instrumenten 
            und den unzähligen musikalischen Hinterlassenschaften von Herrschern, 
            Flüchtlingen und Handelsreisenden eine pulsierende, spannungsreiche, 
            oft tranceartige und Mixtur aus Gegenwart und Vergangenheit. Im Ergebnis 
            klingt "Kalsa" wie eine sizilianische Antwort auf den urbanen 
            Sound von Massive Attack: elektrisierend, hypnotisierend, geheimnisvoll.
          Die 
            Texte bestehen zumeist nur aus einzelnen, ständig wiederholten 
            Zeilen in sizilianischer Sprache, ihr unbekannter Klang verstärkt 
            die hypnotische Atmosphäre, die Vielzahl von Instrumenten und 
            Stimmen, die dumpfe Basslinie und die Magie der Worte lassen den Zuhörer 
            tief in die mysteriöse Welt dieser sinnlichen Musik eintauchen. 
            
          Beim 
            Berliner "Karneval der Kulturen" sorgte Unnaddarè 
            bereits für Aufsehen. Doch ob die Band in der "Multikulti"-Ecke 
            wirklich ausgelastet ist, darf bezweifelt werden. Viel eher könnte 
            man sich die dumpfen Beats von "Kalsa" als experimentelle 
            Clubmusik für die Tanzfläche vorstellen. Nicht umsonst heißt 
            die Band schließlich "Unnaddarè" - sizilianisch 
            für "überall".
            
          © 
            Michael Frost, 28.10.2007