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"ALLES
VERÄNDERT SICH" von Hans Happel Sie ist die wohl berühmteste - und zeitweise berüchtigste - deutsche Rockband der 70er Jahre: Ton Steine Scherben. Mit ihrem Sänger Rio Reiser wurden die "Scherben" zum Sprachrohr der damaligen Jugendbewegung. "Macht kaputt was euch kaputt macht" und "Keine Macht für niemand", beides Titel von Scherben-Songs, wurden zu Slogans einer ganzen Generation. Die Geschichte der Band erzählt Rockpalast-Regisseur Christian Wagner auf einer DVD-Dokumentation: "Land in Sicht" (INDIGO DV 7312-8) |
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"Ich singe düstere Inhalte ja mit einem Lächeln", sagt Rio Reiser im März 1995 der taz anläßlich der Veröffentlichung seiner letzten CD "Himmel und Hölle". Als er im August 1996 mit 46 Jahren starb, war er fast schon zur Kultfigur geworden. Heute gibt es "Die Erben der Scherben" im Kino und Rio Reisers Geschichte wird von der Bremer Shakespeare Company mit großem Anklang als Musical nacherzählt. Vom Frontmann der Anarcho-Band "Ton, Steine, Scherben" zum "König von Deutschland" - Rio Reiser war sich trotz seines Ausflugs in die Pop-Gefilde der Neuen Deutschen Welle treu geblieben. Eine Scherben-Reunion lehnte er zeit seines Lebens ab. Jetzt kann die aufregenste deutsche Rockband der 70-er und 80-er Jahre noch einmal besichtigt werden. Die DVD-Dokumentation von Christian Wagner zeigt in voller Länge ein Konzert, das die Scherben am 30. Mai 1983 in der Stadthalle Offenbach gegeben haben. |
Sie waren
mit ihrem neuen Album "Scherben" auf Tournee, und sie waren
dabei sich von ihrem alten Image als Revolutions- und Hausbesetzer-Band
zu lösen. Das gilt vor allem für die musikalische Gestaltung:
die klassischen Kampfgesänge - "Der Traum ist aus", "Mein
Name ist Mensch", "Keine Macht für Niemand" - werden
nicht mehr so feierlich zelebriert wie Anfang der 70-er Jahre, das große
Pathos der Texte wird gebrochen durch ein neues rhythmisches Gewand, das
mit doppeltem Tempo, eher leicht und locker verspielt daherkommt. Rio
sagt es selber, wenn er "Alles verändert sich" ankündigt:
"Das Lied ist 14 Jahre alt, es hat sich somit auch verändert".
Und dann beginnen sie im Reggae-Rhythmus: "Es gibt keine Liebe, wenn
wir sie nicht wollen...". |
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Genau das ist in diesem Konzertmitschnitt zu sehen und zu hören. "Heut nacht oder nie" hieß der Tourtitel und das war wohl programmatisch gemeint. 1983 war die Zeit der Friedensbewegung, der sich die Scherben in ihren Liedern nicht angedient haben. Sie bauten stattdessen den immer schon vorhandenen Ansatz, das individuelle Glück einzufordern, aus. So gipfelt die Frage des gleichnamigen Songs "Wo sind wir jetzt" in Rios verzweifeltem Sehnsuchtsschrei "Ich halts nicht mehr aus". Seine Fähigkeit, das Politische und das Persönliche zusammenzubinden, gibt seinem Auftritt auch in diesem Mitschnitt jene besondere Authentizität, die er austrahlen konnte ohne sie durch Mäzchen in Gestik oder Outfit unterstreichen zu müssen. Rio Reiser tritt in T-Shirt und Jeans auf. Er verläßt sich ganz auf seine Stimme, und die hat - wie die von Mick Jagger - etwas unverwechselbar eigenes. Sie ist schwärzer und düsterer geworden, sie ist voller Traurigkeit und Melancholie, sie ist schmutzig und damit ist sie das I-Tüpfelchen einer klassischen RocknRoll-Band, die unverkrampft und geradeaus die Musik der 70-er Jahre spielt - mit schönen Soli von Lanrue - und sie mit dem Beat und dem Sound der 80-er vorsichtig aufpoliert. |
Der Konzertmitschnitt
verzichtet auf alle modischen MTV-Spielereien, die Kameras werden schlicht
und konventionell draufgehalten. Dabei ist kein bedeutender Film entstanden,
aber (im Nachhinein) eine der seltenen Dokumentationen, die die bedeutenste
deutsche Band der 70-er und 80-er Jahre in Ton und Bild festhalten. Zu
den angefügten Specials gehören kleine Interview-Schnipsel mit
Rio Reiser, in denen er von seinen musikalischen Einflüssen in der
Kindheit spricht (von Bach zu den Beatles), und in Ansätzen auch
von seiner Liebes- und Todessehnsucht. Sobald er nicht am Mikrofon steht,
wirkt er schüchtern und diskret. Das Wegwollen aus dem Leben, sagt
er, sei etwas, das er kenne, aber es streite sich mit dem anderen Gedanken:
"Mach weiter!" © Hans Happel, 8. März 2003
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