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Mit brutaler Offenheit


Man durfte gespannt sein. "Strange little girls", das neue Album von Tori Amos, war als Sammlung verschiedener Cover-Versionen angekündigt. Ein Wagnis, denn reihenweise sind in den vergangenen Jahren Showgrößen wie George Michael, Sinéad O'Connor und selbst die schillernde Annie Lennox mit ihren mehr oder weniger uninspirierten Versionen von Klassikern aus Pop, Rock, Jazz und Musical gescheitert.

Nicht so Tori Amos. Mit unvergleichlicher Akribie hat sie sich zwölf Titeln angenommen, diese aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, zerlegt, seziert, obduziert - und schließlich wieder zusammengesetzt, allerdings unter Ausschluss aller Identifikationsmerkmale, an Hand derer die Herkunft der Lieder noch festgestellt werden könnte: De- statt Rekonstruktion.

Ihren Vorlagen nähert sie sich aus verschiedenen Richtungen, schlüpft für jeden Song in die Person, aus deren Perspektive sie den Text erzählt: 12 von Männern geschriebene Lieder, die aus der Sicht von 13 Frauen (Neil Youngs "Heart of Gold" wird von Zwillingen erzählt) betrachtet werden - eine emphatische Auseinandersetzung mit Rollen, Rollenklischees und deren Auswirkungen, die sie selbst optisch fortsetzt: "Strange little girls" erschien in vier unterschiedlichen Cover-Versionen (siehe Fotos), das Booklet enthält weitere Aufnahmen zu jedem Song.

Wer Tori Amos bisher nicht kannte, wird nicht erkennen können, wie sie "wirklich" aussieht, und ebenso wenig wiederzuerkennen sind ihre Adaptionen: Depeche Modes "Enjoy the silence", dem sie jeden Rhythmus raubt und an dessen Stelle genau die Stille setzt, nach welcher der Songtitel verlangt; nah, intim und ergreifend auch ihre Fassungen von Tom Waits' "Time", des noch immer berührenden "I don't like Mondays" von den Boomtown Rats, oder Lennon/McCartneys "Happiness is a warm gun", das sie durch eingestreute Nachrichtenfetzen in Beziehung zur Ermordung John Lennons setzt und als glaubwürdige Anklage gegen die übermächtige Waffenlobby inszeniert.

Gewalt und Brutalität in ihren unterschiedlichen Ausprägungen sind die zentralen Themen der düsteren und beklemmenden Songs. So stellt sie auch einen Titel des umstrittenen Rap-Stars Eminem auf die Füße ('97 Bonnie & Clyde), will sagen, sie legt die in dem Song zum Ausdruck gebrachte erschreckende Brutalität offen. Denn "97 Bonnie & Clyde" ist eine entsetzende Ansprache des Vaters, der gerade seine Frau ermordet hat, an die gemeinsame kleine Tochter ("Da-da made a nice bed for mommy at the bottom of the lake ..."). Tori Amos versteht es perfekt, die irre Dramatik des Textes und den sich zuspitzenden Wahnsinn des Vaters glaubwürdig spürbar werden zu lassen - man hält förmlich den Atem an. Als sie das Lied in Eminems Originalversion zum ersten Mal hörte, sei sie schockiert gewesen, so Tori Amos, als ihr klar wurde, dass die Leute in den Clubs dazu tanzen würden, "bei einem Song der davon handelt, wie ein Mann seine Frau abschlachtet".

Genau dem Moment, in dem man glaubt, "Strange little girls" sei das ruhigste Album, das Tori Amos je veröffentlichte, belehrt ihre Version von Neil Youngs unvergessenem "Heart of gold" eines Besseren: heulende Gitarren, donnernde Drums und eine entfesselte Tori Amos spielen und singen den Evergreen in Grund und Boden.

Gingen wir bislang davon aus, Tori Amos habe ihr Meisterwerk bereits vor ein paar Jahren mit ihrem Album "Boys for Pele" abgeliefert, belehrt "Strange little girls" eines Besseren. Da beide Alben grundverschieden sind, verbietet sich ein direkter Vergleich. Aber: Selten konnte jemand mit Coverversionen so überzeugen wie sie - und selten war der Begriff "Coverversion" eigentlich so untertrieben und deshalb unpassend wie hier, weil Tori Amos den Originalen völlige neue und ungeahnte Dimensionen gleichermaßen entlockt und eröffnet, wie man es sonst bestenfalls - und auch nur ganz selten - von großen Orchestern und ihren Dirigenten kennt, wenn es ihnen gelingt, das Wesen klassischer Werke neu zu interpretieren.

MF / 22. September 2001

 

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