Gelegentlich 
          fällt in Musikrezensionen der Begriff der Vokalakrobatik. Mit ihm 
          werden außergewöhnlich virtuose Gesangsleistungen gekennzeichnet, 
          technische Präzision und höchster künstlerischer Anspruch. 
          Vokalakrobatik verblüfft, weil sie Gesangsformen präsentiert, 
          zu denen die menschliche Stimme eigentlich gar nicht befähigt ist. 
           
          Gäbe 
            es den Begriff der Vokalakrobatik nicht bereits, müsste man ihn 
            für das italienische Frauen-Vokal-Ensemble Faraualla erfinden. 
            Geradezu atemberaubend sind nämlich die stimmlichen Trapezkünste 
            der Frauen aus Apulien, die seit 1995 zusammen arbeiten und jetzt 
            ihr zweites Album veröffentlichen. 
          Talent, 
            Trainung und eine fundierte Ausbildung sind die Grundlage ihrer polyphonen 
            Stücke. Gabriella Schiavone, Maristella Schiavone, Lorendana 
            Perrini, Paola Arnesano und Teresa Vallarella schöpfen aus dem 
            multi-kulturellen Repertoire ihrer Heimat, das sowohl aus arabisch 
            anmutetenden Harmonien als auch christlichem Chorgesang, wilder Tarantella, 
            großer Oper und den Straßengesängen Neapels besteht. 
            Auch die Nähe zum Balkan wird erkennbar und weckt Assoziationen 
            zum Frauenchor des bulgarischen Radios, der unter dem Namen "Le 
            Mystère des Voix Bulgares" internationale Erfolge feierte.
          Doch 
            Faraualla sind, bei aller Hingabe zur Tradition, eine moderne Formation 
            mit deutlichem Anspruch auf das musikalische Hier und Jetzt. Sie arrangieren 
            ihre Kompositionen mit leidenschaftlicher Begeisterung für Überraschendes, 
            Ungewöhnliches und Ungehörtes, indem sie Musikgeschichte 
            und -zukunft miteinander kombinieren und sich dabei ganz auf das spannungsvolle 
            Zusammenwirken ihrer Stimmen verlassen. 
          Die 
            Instrumentierung könnte spärlicher nicht sein: Der klangliche 
            Hintergrund besteht ausschließlich aus diversen Percussions 
            wie Basstrommel, Tamburin, Tablas, Klanghölzern und Löffeln, 
            die sowohl von den Frauen selbst als auch von den beiden männlichen 
            Mitgliedern Cesare Pastanella und Pippo D'Ambroiso gespielt werden. 
            Eine Ausnahme bildet allein der Schlusssong. Der Remix des ebenfalls 
            auf "Sind'" enthaltenen Titels "Masciare" folgt 
            dem "Electronico"-Experiment der portugiesischen Folklore-Gruppe 
            Madredeus. Dancebeats und Ambientklänge kontrastieren den Gesang 
            und beziehen aus dem Widerspruch zwischen traditioneller Akustik und 
            digitalen Sounds zusätzlichen Reiz.
          Interessant 
            und widersprüchlich ist auch die Funktion der Sprache. Die meisten 
            Titel werden in charakteristischer süditalienischer Mundart gesungen, 
            doch der Gruppen-Name "Faraualla" bezeichnet an sich die 
            Reduzierung der Sprache. "Wie bei einem Wort, das seine Bedeutung 
            verliert und auf seinen Klang reduziert ist: rein, einfach und kraftvoll." 
            Das klingt spielerisch, ist aber in Wahrheit technische und künstlerische 
            Höchstleistung. Eben eine Aufgabe für Vokalakrobatinnen 
            wie Faraualla. 
          © 
            Michael Frost, 02. August 2003