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Sinistre Sounds der
verrückten Welt


Dafür, dass das Jahr noch nicht einmal zwei Monate alt ist, verfügt es bereits über erstaunlich viele musikalische Höhepunkte. Doch ganz gleich, ob von Nick Cave, Beth Gibbons oder Lou Reed die Rede ist, vor allem dieses Wort beherrscht die aktuellen Plattenkritiken: "sinister".

Als "sinister", also unheilvoll oder unglücklich, wird auch "100th Window", das neue Album von Massive Attack bezeichnet, ein Attribut, das so nicht wirklich zu erwarten war.

Fakt ist: Es ist wohl das dunkelste Album der Geschichte des Projekts aus Bristol, dessen zum "Triphop" fusionierte Mixtur aus Dancefloor, Rap, Filmmusik, Hiphop, Jazz und Electronica eine ganz neue Musikrichtung begründete.

Zwar wurde auf bekannte Mitstreiter wie Horace Andy, der bislang auf jeder Massive-Attack-CD als Gastsänger zu hören war, auch auf "100th window" nicht verzichtet, aber dennoch ist Massive Attack-Kopf Robert del Naja alias "3D" der einzige der ursprünglichen Formation, der an der Entwicklung des neuen Albums beteiligt war. Andrew Vowles verließ die Band vor geraumer Zeit, und Grant Marshal nahm eine Baby-Pause, wird aber laut Mitteilung der Plattenfirma zur anstehenden Tour wieder dabei sein.

Sinister ist "100th Window" insofern, als 3D gemeinsam mit Co-Produzent Neil Davidge eine drohende Grundstimmung schuf, die an keiner Stelle des Albums wirklich durchbrochen wird. Schon werden - nicht ganz unzutreffend - Vergleiche mit den beiden Radiohead-Alben "Kid A" und "Amnesiac" bemüht. Die auf "Mezzanine" eingeführte E-Gitarre hat auch auf diesem Album ihren Platz, fügt sich jedoch eher unauffällig in den elektronischen Klangkosmos ein, zu dem sich außerdem Streicher, Harfe und Klavier gesellen.

Selbst die ansonsten eher dem kämpferischen Betroffenheitspathos zugeneigte Sinéad O'Connor, die als Sängerin an drei Stücken des neuen Albums beteiligt ist, klingt seltsam düster und zurückgenommen, tiefgründig und resignativ - und hat dabei einige der besten Momente ihrer Gesangskarriere. In Interviews wird 3D nicht müde, ihre herausragenden Eigenschaften zu betonen: "Man bekommt nicht nur ihre fantastische Stimme, sondern ihre gesamte einzigartige Persönlichkeit."

"Special cases" soll die erste Single-Auskopplung werden. Der epische Spannungsbogen des Stücks mit seinen dunklen Beats, der drängenden Stimme O'Connors und treibenden arabischen Streichern ist durchaus repräsentativ für die nervöse Stimmung des Albums, die mit "A prayer for England", O'Connors bester Gesangsleistung seit Jahren, ihren finster-hypnotischen Höhepunkt erreicht.

Der unruhige Grundton trifft durchaus den Nerv der Zeit. Der Vorwurf der "Designermusik", der Massive Attack verschiedentlich gemacht wurde, perlt an "100th Window" ab. "Take a look at the world, you see such mad things happening", lautet die Aufforderung von Massive Attack im Jahr 2003, und angesichts des bevorstehenden Irak-Krieges, gegen den sich 3D gemeinsam mit anderen britischen Musikgrößen wie Damon Albarn (Blur) zur Wehr setzt, vermag man nicht zu widersprechen. Komponierten Massive Attack früher Soundtracks zu imaginären Filmen, so sind es heute eher die realen Verhältnisse, die sie in ihrer Musik abbilden. Und wie beschreibt man die realen Verhältnisse am treffendsten ?
Richtig - sie sind sinister.

© Michael Frost, 08. Februar 2003

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